Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
der Mitte der Wand.Ihr Kittel war so sorgfältig auf einem kleinen Sessel am Fußende des Bettes drapiert, daß es, hätte man noch einen Kopf daraufgesetzt, so ausgesehen hätte, als schaue sie sich selbst an. Als sie unter die Decke griff, fühlte sie ihr rauhes Nachthemd und die Binden, die ihr den Brustkorb einschnürten. Die Haare hatte sie retten können, aber diese Binden schien sie behalten zu müssen. Geduld! Wer hatte bloß so aufräumen können, während sie schlief? Wie als Antwort auf ihre Frage öffnete sich die Tür, und ein Mädchen in Schürze und mit einer weißen Haube – war sie etwa schon wieder in einem Kloster gelandet? – trat lächelnd ein. Dieses Lächeln beruhigte sie, denn sie hatte noch nie gehört, daß man in einem Kloster so lächeln und schamlos alle Zähne zeigen durfte.
»Entschuldigt, mein Fräulein, die Fürstin wünscht Euch einen guten Morgen und möchte wissen, ob Ihr gut geschlafen habt und damit zufrieden seid, wie ich Eure Sachen arrangiert habe.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Durfte ich reden, oder war es besser zu schweigen? Aber als ich sah, daß dieses Lächeln zu einer Grimasse erstarb, nahm ich all meinen Mut zusammen:
»Sehr zufrieden.«
Das Lächeln kehrte zurück:
»Danke, mein Fräulein, ich werde es die Fürstin wissen lassen. Die Fürstin läßt Euch ausrichten, daß Ihr machen könnt, was Ihr wollt: ausgehen, im Garten spazieren, in die Bibliothek und in den Musiksaal gehen. Und wenn Ihr Hunger habt, dann begebt Euch in die Küche, dort findet Ihr die Köchin zu Eurer Verfügung … Hier ist ein Blatt, auf dem alles steht, woran Ihr Euch halten möchtet. Kann ich jetzt gehen? Wenn Ihr mich braucht, zieht an dieser Schnur zu Eurer Linken, und ich bin sofort da. Ich binsehr schnell, mein Fräulein, so schnell, daß mir die Fürstin die Ehre erwiesen hat, mich Quecksilber zu taufen. Sie nennt mich nie bei meinem richtigen Namen, sondern immer nur so. Ach, ich heiße übrigens Luigia. Ich komme nämlich nicht aus dieser Gegend. Und wie die Fürstin behauptet – ich selbst würde mir nie ein Urteil über das Land erlauben, dessen Gastfreundschaft ich genieße –, sind die Frauen hier langsam, um nicht zu sagen, ein wenig faul … Wie gesagt, ich bin in der Toskana geboren, in Poggibonsi, um genau zu sein. Dort, mein Fräulein, bringt man es zu nichts, wenn man nicht flink ist …«
Und ob sie flink war! Innerhalb weniger Sekunden hatte sie lächelnd all diese Wörter heruntergerattert, dabei noch etwas verschoben, das ihrer Ansicht nach nicht richtig stand, die Gardinen aufgezogen und sie mit einer großen, perfekten Schleife zurückgebunden. Dann entschwand sie meinem Blick und ließ mich, von der Sonne geblendet, mit einem Blatt Papier zurück, das so glatt und zart wie Seide war – war denn dieses Haus ganz aus Seide? – und auf dem in einer kleinen, perfekten Handschrift die Zeiten vermerkt waren, zu denen ich das Zimmer verlassen durfte. Mir war alles erlaubt, aber nur zu den Zeiten, die mit dieser Feder elegant, aber unumstößlich auf dem kostbaren Papier festgehalten waren.
21
Nicht das gesamte Haus war aus Seide, aber fast. Da gab es das Holz der Türen und Tische und den Samt der Vorhänge. Draußen hingegen war alles aus Marmor: die Stufen, die Brunnen, die Statuen, die gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartete, aus grünen Nischen hervorlugten– letztere natürlich nicht aus Marmor, sondern aus so schönen Pflanzen und Blumen, daß Mimmo vor Freude verrückt geworden wäre, wenn er sie hätte sehen können. Nein, es war besser, daß er das nicht sah, es hätte ihn nur traurig gemacht. Er war so stolz auf seine Geranien gewesen, auch wenn er immer gebrummt hatte: »Ach, Principessa, es gibt viel schönere Blumen. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, daß du eines Tages das sehen kannst, was für mich Catania war … Wenn du diese Villa sehen könntest! Ich war als Soldat in Catania. Aber hier, bei all der Lava und mit der wenigen Erde, die man dem Tal entreißt, muß man sich damit begnügen, Bohnen und Tomaten anzupflanzen, Nahrung …«
Wie Mimmo es ihr gewünscht hatte, sah sie jetzt solche Blumen. Manchmal berührte sie sie auch, doch ihre Namen kannte sie nicht. Und nach Tagen und Tagen inmitten dieser stillen Seide, die sie von ihrem Zimmer in den Flur und in den Garten gleiten ließ, wagte sie sich in die Bibliothek, um nach den Namen der Blumen zu suchen. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es gab dort große, reich
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