Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Allerdings nur in den Stunden, die diese Handschrift auf dem seidenglänzenden Papier festlegte. Jacopo drückt mir einen Moment den Arm. In seinen Kleidern hängt der ungewohnte Geruch nach antiseptischen Fluren, vermischt mit dem typischen Mief von Eisenbahnwaggons. Sie waren die ganze Nacht unterwegs, und wie um sie zu stützen, hat er seiner Olimpia den Arm um die Taille gelegt. Aber ja, ich hatte es fast vergessen, auch das Schönste vergißt man. Für ein Leben, das erlischt, wird ein neues geboren: Olimpia erwartet ein Kind von meinem Jacopo.
»Wie schön Crispina ist, Großmutter, jedesmal wenn sie zurückkehrt, ist sie noch schöner geworden! Stimmt es, daß ich als Kind in sie verliebt war? Das hat mir Pietro immer erzählt.«
»Ja, Carluzzu.«
»Ich kann mich nicht an diese Liebe erinnern, nur daran, wie sie sang. In mir habe ich zwei Crispinas: eine, die von ’Ntoni zum Singen in die Mitte des Zimmers geschobenwerden mußte, und dann die stattliche und sicher auf der riesigen Bühne stehende Frau. Weißt du noch, wie Pietro schwitzte? Wo war das noch, Großmutter?«
»In Mailand, glaube ich, es ist so lange her. Pietro war glücklich! Wenn man glücklich ist, fliegt das Leben nur so dahin.«
»Das stimmt. Wohin starrst du, Großmutter? Und warum wirst du so blaß?«
Dort hinten ist Prando, er steht neben ’Ntoni und lächelt mich an. Nach all den Jahren will er mit mir reden. Ich möchte hierbleiben, möchte den Geschichten über Pietro lauschen, möchte Wein trinken, aber Prando braucht mich. Ich muß gehen.
»Was ist los, Mama, warum starrst du mich so an? Dein Schweigen ist demütigend. Prando ist doch gekommen, und allein sein Kommen ist die Bitte um Verzeihung für sein früheres Verhalten. Laß uns alles vergessen.«
Warum redet er mit derselben Stimme wie damals als Kind, als ihn ein Gipsfuß quälte?
»Ich mußte zum Arzt, mit meinem Herzen stimmt etwas nicht. Ich soll mich entscheiden, entweder mein Leben ändern und noch dreißig Jahre haben oder …«
Meine Hände greifen suchend in seine harten Locken: kein einziges weißes Haar, kein Schatten in seinen marmornen Gesichtszügen. Doch Prando lügt nicht, nur diese Warnung konnte seinen Stolz überwinden und ihn zu denen zurückführen, die ihn haben aufwachsen sehen.
»Aber weißt du, was ich diesem Trottel von einem Quacksalber gesagt habe? Daß ich ohne meine Arbeit, die berauschender ist als Wein, und ohne mein Motorrad nicht leben kann. Soll ich etwa enden wie dieserSchwächling Mattia, der sich wie ein Weib nur noch um seine Gesundheit sorgt?«
»Er ist glücklich.«
»Mag sein, aber mir ist es doch lieber …«
»An wem willst du dich mit deinem Tod rächen, hm, alter Mann?«
»Alt nennst du mich, und zu Recht. Warum hast du mich auf die Welt gesetzt, wenn du doch wußtest, daß ich alt werden würde?«
»Dann willst du dich also an mir rächen?«
»Unter anderem. Wenn ein Sohn stirbt, dein Sohn, wird es dir leid tun, mich geboren zu haben. Und die Trauer wird dich alt machen, einsam und eingesperrt in die Erinnerung an mich.«
»So sehr hast du mich geliebt, Prando?«
»So sehr. Und du mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil du immer für alle gelebt hast, immer unterwegs, Vermaledeite, hast mit allen geredet und warst mit allen vertraut.«
»Hätte ich mich für dich entscheiden und das Leben wegschicken sollen?«
»Ja.«
»Du, Prando, wolltest immer alles, schon als Kind. ›Prando hat zwei Mamas: Mama Stella und Mama Mody, und auch zwei Tanten.‹ Weißt du noch?«
»Ja.«
»Dann sage mir: Was hätte ich tun sollen, ich, die ich wie du bin und wie du alles will?«
»Auch das stimmt! Endlich lächelst du einmal, Mama. Wenn du lächelst, bist du wieder jung, wie damals, als ich ein Kind war. Prando ist ein Monster, aber er ist auch stolz, wenn du lächelst und wie ein Mädchen aussiehst …Ich möchte dich umarmen, wehre dich nicht, denn ich bin krank! Hier, dicht bei mir, meine Mädchen-Mama, oder hast du mich belogen, und ich bin nicht mal aus dir herausgekrochen? Und du bist vielleicht nur meine Schwester? Bei dir ist alles möglich. Das macht mich ja so rasend. Selbst wenn ich tot bin, wird sie mich noch rasend machen!«
»Dabei weißt du genau, wenn ich ein treues Schaf gewesen wäre, wie deine Amalia, wärst du meiner genau wie ihrer überdrüssig geworden.«
»Das stimmt. Prando wird der Dinge, die er besitzt, überdrüssig. Jetzt, wo ich Geld habe, langweilt es mich, und selbst das Motorrad, ich tue
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