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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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studieren … Sie mußte sich genauer erkundigen. Was für eine reiche und geheimnisvolle Welt war doch »die Welt der Ideen«, wie sie der Hauslehrer nannte. Und er hatte auch gesagt: »Sehr gut, mein Fräulein, Ihr wißt mit den Begriffen umzugehen wie ein Mann.«
    Natürlich hatte Madre Leonora ein wenig von Platon erzählt, aber die Sophisten, die Epikuräer … Und dieser griechische Philosoph, der gesagt hat, daß alles aus dem Zufall heraus entsteht … wie hieß der noch? Sie mußte fragen. Der Hauslehrer würde ihr antworten.
    Sie konnte ohne Furcht fragen. Das wäre im Kloster nicht möglich gewesen. Aber wenigstens könnte sie dort lesen. In den paar Monaten mußte sie fragen, sie mußte den sanften, lächelnden Alten alles fragen. Schade, daß dieser Hauslehrer nicht jung war, das hatte sie so sehr gehofft, aber inzwischen wußte sie, daß auch der Musiklehrer alt sein würde. In diesem Haus gab es nur Frauen und alte Männer. Wer wußte, warum Madre Leonora aus diesem reichen Kloster zwischen die Lavamauern hoch in den Bergen geflohen war? Im Grunde genommen machte es keinen Unterschied …
    »Was träumst du vor dich hin? Oh, entschuldige, vielleicht hast du gebetet! Ich möchte dich so gern dem Maestro Beljajew vorstellen. Du wirst sehen, er wird begeistert von dir sein!«
    Durch die angelehnte Tür, eine Hand noch auf dem Vorhang, wogte Beatrice mit ihrer zerbrechlichen, unter weißen, weichen Falten verborgenen Taille herein. Sie trug fast immer nur Weiß.
    »Weißt du, daß du beinahe so aussiehst wie die Beatrice von Gustave Doré?«
    »Findest du? Ich erinnere mich nicht an sie. Ist das ein Gemälde?«
    »Nein! Es sind die Illustrationen der Göttlichen Komödie unten in der Bibliothek.«
    »Ach ja, dieser Wälzer hat Papa gehört. Dir entgeht wirklich nichts. Und du meinst, daß ich ihr ähnlich sehe? Das mußt du mir nachher zeigen. Komm, gib mir die Hand. Du willst nicht? Aber warum denn?«
    Wie konnte ich, nachdem ich sie im Arm gehalten hatte! Allein bei dem Gedanken, ihre Hände zu spüren, riskierte ich, die Vorsicht zu verlieren und mit ihr meine Berufung. Sie jedoch merkt nichts. Mit flinker Hand hält sie mich am Handgelenk fest. Wie gut, daß ich heute morgen die Binden so geschnürt habe, wie es sich gehört.
    »Was ist, Beatrice, was ist denn?«
    »O Gott! Da kommt er. Hörst du diesen schweren Schritt?«
    Und wirklich erbebte die Treppe, so als ob jemand beschlagene Schuhe oder Holzpantinen trüge.
    »Mach die Tür zu, ich habe Angst.«
    »Ja, aber was ist denn los?«
    Da sie inzwischen im Zimmer, an mich geklammert, in Sicherheit war, öffnete sie vorsichtig die Tür und zeigte mir eine Art Riesen, der vom Ende des Flurs her auf uns zukam. Er mußte zwei Meter groß sein, hatte Schultern, so breit wie eine Tür, und einen kleinen, runden und kahlen Schädel auf einem Hals, der an eine Säule erinnerte. Diese Kugel schien eher die Fortsetzung des massiven und muskulösen Halses als ein Kopf zu sein. Der Hals hatte zwei große Augen, so hell, daß sie fast weiß wirkten.
    »Wer ist das?«
    »Komm, ich begrüße ihn. Wenn du bei mir bist, habe ich vor nichts Angst … Guten Tag, Pietro.«
    »Habe die Ehre, Principessina.«
    »Wie geht es Ippolito?«
    »Alles bestens, Principessina, alles bestens.«
    Er starrte ausdruckslos von oben auf uns herab. Und auch wenn man es an seinem Gesicht schwer erkennen konnte, lähmte ihn das Erstaunen darüber, begrüßt worden zu sein. So unbeweglich sah er aus wie eine Statue.
    »Wünschen die junge Fürstin etwas?«
    Auch seine schleppende Stimme war ausdruckslos.
    »Nein danke, nichts, Pietro, ich wollte nur wissen, wie es Ippolito geht.«
    »Es geht ihm nicht schlecht, Gott sei’s gedankt. Darf ich mich empfehlen? Küß die Hand, Euer Durchlaucht.«
    Er drehte sich steif nach rechts und stieg mit seinem bleiernen Schritt weiter die Treppe hinauf. Das war also das Geräusch, das ich jeden Morgen hörte.
    »Er macht einem Angst, nicht wahr, Modesta?«
    »Allerdings macht er einem Angst. Aber wer ist das überhaupt?«
    »Er kümmert sich um Ippolito. Siehst du, er steigt ins oberste Stockwerk hinauf. Er allein weiß, wie man mit ›dem Ding‹ umgeht, wie Maman sagt. Er jagt mir wirklich Angst ein! Mach die Tür gut zu. Ich habe noch nie mit ihm gesprochen, brr … was für eine schreckliche Stimme. Dieser Flügel der Villa ist schrecklich: ›das Ding‹, Papas Zimmer, brr!«
    »Du hast mir alle Zimmer gezeigt, aber nicht das von deinem Vater, dem

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