Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
siebzehn Jahre alt, so wie …«
»Wie wer?«
»Wie ich.«
27
»Komm schon, das hattest du doch begriffen! Ich merke ja, daß du dich gar nicht wunderst. Maman hat recht: Du siehst und begreifst alles. Sie sagt auch, daß sie selten ein Mädchen getroffen hat, das so gescheit und willensstarkist wie du. Außerdem ist sie richtig wütend darüber, daß sie einfach keinen Spitznamen für dich findet. Sie sagt, daß du das Gegenteil von dem Namen bist, den du trägst, und … Aber warum wirst du blaß? Nein, sie ist nicht böse auf dich! Du kennst sie doch, sie ist nur wütend, weil sie es nicht schafft, einen Spitznamen für dich zu finden.«
Voller Schrecken machte ich mich daran, die Haare wieder hochzustecken. Beatrice war naiv, aber die Fürstin nicht, sie durfte mich nicht mit losen Zöpfen sehen!
»Aber was machst du denn da? Nein, laß sie doch unten! Die Haarnadeln habe ja sowieso ich, und ich gebe sie dir nicht. Ich bin so froh, daß du alles begriffen hast. Jetzt muß ich nicht mehr so tun, als hinke ich nicht und als sei ich älter … Aber bitte, laß es die Großmutter nicht merken, daß du alles weißt.«
»Also ist die Fürstin deine Großmutter und nicht deine Mutter?«
»Wie soll sie denn meine Mutter sein? Ich weiß gar nicht, wie alt sie ist. Mir kam sie damals, bevor Ignazio in den Krieg zog, sehr jung vor, aber als sie ihn dann auf der Bahre zurückgebracht haben, ist sie innerhalb weniger Monate ganz weiß und hager geworden. Es tut mir leid, sie so zu sehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie noch bis vor zwei Jahren geritten ist … Nicht einmal Carmine konnte ihr folgen.«
»Und wer ist Carmine?«
»Tja. Das ist das Problem. Darf ich dir die Zöpfe lösen?«
»Nein, Beatrice, das ist verboten. Aber wessen Tochter bist du dann?«
»Das darf ich dir nicht sagen. Ich darf es nicht. Du könntest dadurch deine Berufung verlieren, und die ist, wie die Großmutter sagt, dein einziger Besitz.«
»So einfach, wie es dir erscheinen mag, geht das nicht. Wenn sie so tief verwurzelt ist wie bei mir, kann sie einem keiner mehr entreißen. Aber warte mal – hast du gesagt, daß ich dadurch die Berufung …«
»Genau, jetzt hast du es begriffen! Ja, denn Madre Leonora war meine Mutter. Mein Gott, wie blaß du wirst. Aber ich habe es dir nicht gesagt. Du hast es selbst erraten, nicht wahr? Du hast es erraten! Ich will dir deine Berufung nicht nehmen.«
»Nein, Beatrice, nein, du hast es mir nicht gesagt. Ich habe es selbst erraten.«
»Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas ahnt oder ob man es weiß, nicht wahr? Wie blaß du geworden bist!«
»Warte, ich gehe mir das Gesicht waschen, nur einen Augenblick.«
In dem kleinen Bad stützte ich mich auf die Waschschüssel und hätte mich beinahe übergeben. Ich zitterte am ganzen Körper, aber nicht vor Schmerz, wie Beatrice dachte … Diese verdammte … der furchteinflößende Verlobte, der Debütantinnenball, ihr Leiden an der Verderbtheit der Welt … und dann auch noch die Mutter Gottes, die ihr gezeigt hatte, wie schrecklich die Männer waren. Die Gnade, die Berufung! Statt dessen hatte sie einen gehabt, einen Mann!
Um meinen Haß zu zügeln, begann ich mich mit kaltem Wasser zu ohrfeigen, bis ich im Spiegel das Gesicht einer Nonne sah, ruhig und ohne ein Lächeln. Und während es in meinem Kopf weiterarbeitete – verdammte Lügnerin, ich hasse dich –, kehrte ich zu Beatrice zurück, die mich unruhig mit den Haarnadeln in den Händen erwartete.
»Ich habe es dir nicht gesagt, Modesta! Du hast es selbst erraten, du ganz allein!«
»Aber natürlich, Beatrice!«
»Wie ruhig du jetzt bist. Hast du wegen Madre Leonoras Sünde die Berufung verloren?«
»Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, Beatrice. Und außerdem hat Madre Leonora ihre Sünde in der Einsamkeit und im Gebet abgebüßt. Ich habe nicht gesündigt, und trotzdem fühle ich mich ihrer nicht würdig.«
Voller Schrecken hörte ich die Stimme von Madre Leonora, die aus meinem Munde sprach. Hatte der Haß sie etwa in mir wiederauferstehen lassen? Das Gebet des Hasses vermag alles, es bringt Leben und Tod.
»Und jetzt, du gute Seele, sag mir, wer war dein Vater? Dieser Offizier, dem sie versprochen war?«
»Wenn ich deine Zöpfe hier in der Sonne aufmachen darf, sag ich es dir.«
»Mach nur, Kindchen.«
»Was für eine sanfte Stimme du jetzt hast! Du bist eine Heilige, Modesta! Alles läßt du mit dir geschehen und nimmst es an, ohne dich dagegen aufzulehnen.
Weitere Kostenlose Bücher