Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
dieses Gefängnisses aus Zahlungen, Grundstückssteuern, Pachtverträgen … Verwalter und Aufseher hatten es schwer, die Pacht einzutreiben, die Bauern begehrten auf, das Land warf nichts ab, und die Gehälter verdreifachten sich. Um ein Buch lesen zu können, mußte ich Stunden meines Schlafes opfern. Das Klavier verstummte. Jacopos Koffer stand vergessen in einer Ecke des Nachbarzimmers. In welche Falle war ich da geraten? Auch ich versuchte, ein Herrschaftssystem aufrechtzuerhalten, das überall an Boden verlor. Und dieses gigantische Haus, das wie ein Palast geführt wurde? »Ich würde Eurer Durchlaucht empfehlen, die Vorhänge im Frühjahr aufzufrischen«, hatte der Majordomus untertänig angemerkt. Was bedeutete, neue zu kaufen. Die Villa auf dem Land mußte das ganze Jahr hindurch unterhalten werden wie ein Hotel, in Erwartung der Rückkehr all dieser Toten, was zwanzig hungrige Mäuler und zwanzig Gehälter pro Monat bedeutete. Ich konnte nicht mehr schlafen. Auch Gaia hatte unter Schlaflosigkeit gelitten. Erst jetzt verstand ich ihren besessenen Blick und warum sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte: immer mit dem Ziel, diesen aussichtslosen Kampfzu gewinnen. Wofür hatte sie sich da geopfert? Die Verpflichtung eines Namens, den man in der Achtung der anderen und vor sich selbst hochhalten mußte? Die Anwälte, Bankiers und Notare hatten genau wie sie diesen stumpfen, starren Blick. Carmine nicht. Carmine kam mir in der Erinnerung lachend auf Orlando entgegen, mit seinen weißen Locken, die unbeweglich im Wind standen. Seit Monaten sah ich ihn nur noch umgeben von Notaren und Anwälten in ihren engen schwarzen Westen und Jacken. Sobald er konnte, flüchtete er vor ihnen. Auch ich mußte aus diesen Mauern und vor diesen Männern fliehen, die ich früher einmal so bewundert hatte, als ich mit der Verwaltung des Carmelo betraut war, die mir aber inzwischen wie Häftlinge eines Gefängnisses vorkamen, das sie Tag für Tag selbst erbauten.
»Euer Durchlaucht hätten als Mann zur Welt kommen sollen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
Es hatte eine Zeit gegeben, da dieser Satz das höchste Lob war, das man mir aussprechen konnte. Jetzt aber lag mir die Angst, wie Gaia zu werden, schwer auf der Brust und nahm mir den Atem.
Die Stadt lehrte ihre Bewohner. Die Macht der majestätischen Kuppeln, der grimmigen Türme und Villen, die durch die eisernen Ornamente ihrer Gitter kaum freundlicher erschienen, versperrte dem elenden Gewimmel, das sich dienend und lächelnd ausbeutete, den Zutritt und mahnte ununterbrochen alle, alt wie jung, Geld anzuhäufen, um die Angst vor dem Tod zu verdrängen, diesem Wort, das eigentlich nicht erschreckender ist als Wörter wie Krankheit, Knechtschaft oder Folter. Ich wollte den Tod nicht ständig vor Augen haben, diesen Endpunkt, der, wenn man ihn nicht länger fürchtet, jede Stunde, die man in vollen Zügen genießt, in eine Ewigkeit verwandelt.Aber man mußte frei sein, um jeden Moment auszukosten und jeden Schritt dieses Spaziergangs zu wagen, den wir Leben nennen. Frei sein, um zu beobachten, um zu lernen, um hinauszuschauen und zwischen jenem Wald aus Häusern jeden Lichtstrahl zu erhaschen, der sich vom Meer herauf zwischen die Fensterläden verirrte. Inzwischen hatte man die Straßenlaternen gelöscht, die Hafensirene begrüßte ein unsichtbares Schiff, und man hörte das Rasseln der Rolläden, die einer nach dem anderen hochgezogen wurden. Der Ruf eines Fischverkäufers drang aus den Gassen herauf, die die Via Etnea kreuzten und traf auf den eines granita 4 -Verkäufers, der die Hitze beschwor, um seine Ware, den »Speichel des Berges«, anzupreisen … Aber nicht hier, nicht in dieser eleganten Straße mit den schweren Portalen der Banken, deren Prunk an Särge erinnerte. Die Tore der Banco di Sicilia standen bereits offen, und da ging auch schon der erste Angestellte über die Straße. Daß er kein kleiner Angestellter war, konnte man am perfekten Schnitt seines dunklen Anzugs und an seinem glänzenden, eleganten Spazierstock erkennen. Dieser Mann hatte gewiß den gleichen starren Blick wie Anwalt Santangelo und bereitete sich auf einen weiteren Tag als Vorgesetzter vor, froh darüber, Befehle erteilen und demütigen zu können. Nein, ich wollte nicht Sklavin meines Vermögens werden. Als erstes würde ich heute niemanden empfangen. Jacopo ruft mich mit seinem ironischen Lächeln aus den Tiefen des Koffers, ich muß diesen Koffer öffnen. Es gab eine
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