Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Tod. Viele Wörter, beinahe alle, lügen. Und das mußte ich tun: die Wörter untersuchen, wie man Pflanzen und Tiere untersucht … und sie dann vom Schimmel reinigen, sie von den jahrhundertealten Verkrustungen der Tradition befreien, neue erfinden und vor allem die verwerfen, die man jeden Tag benutzt, die aber innerlich vollkommen verrottet sind: erhaben, Pflicht, Tradition, Entsagung, Demut, Seele, Scham, Herz, Heldentum, Gefühl, Barmherzigkeit, Opfer, Resignation.
So habe ich gelernt, Bücher auf eine andere Art zu lesen. Wenn ich auf ein bestimmtes Wort traf, löste ich es aus seinem Zusammenhang, um es zu untersuchen und zu sehen, ob ich es in »meinem« Zusammenhang verwenden konnte. Bei diesem ersten Versuch, die Lüge hinter den Wörtern, die mich einst beeindruckt hatten, zu entlarven, merkte ich erst, wie vielen von ihnen und damit auch wie vielen falschen Ideen ich zum Opfer gefallen war. Und mein Haß wuchs jeden Tag: der Haß darüber, entdecken zu müssen, daß man getäuscht worden ist.
Ich fand die Worte, mit denen ich Carmine umbringen konnte. Ich begriff, was alle Dichter wissen, daß man auch mit Worten töten kann, nicht nur mit Messer und Gift:
Du tötest mich, aber mein Gesicht
wird deinem Blick
eingebrannt bleiben.
In den Nächten
werden Tränen
unter deinen fest geschlossenen Lidern
hervorströmen.
Und wenn ich an Beatrice während der ersten Zeit unserer Liebe dachte, an die Beatrice von damals, bevor ich sie vergesse:
Was drängt es dich
nach verworrenen Zeiten?
Dich, die bereits ein Hauch von Hitze
erblassen läßt,
die gebrochen fällt
schon beim sanften Spiel der Schatten
auf einer Wiese.
Keine Angst, ich werde nicht alle Gedichte niederschreiben, die sich wie eine Flut meiner Sinne bemächtigen.
»Was machst du, Modesta? Du sollst doch nicht soviel arbeiten. Entschuldige, ich mußte einfach kommen und dich suchen. Bei dieser Hitze ist es am Meer so angenehm. Wir haben ein Feuer vorbereitet, heute abend essen wir am Strand. Pietro hat heute morgen so vieleFische gefangen. Stell dir vor, er ist komisch, er tut so, als ob Ippolito auch welche gefangen hätte! Komm schon, wir sind so glücklich, nur du fehlst.«
Und wirklich schienen alle glücklich, Beatrices Anweisungen zu folgen, die in kurzer Zeit mit all dem Silberbesteck und dem Porzellan, die im Licht der Bootslampen schimmerten, die kleine Bucht in ein Speisezimmer verwandelt hatte. Der glücklichste war Ippolito, der Hand in Hand mit seinem Fräulein Inès aufs Meer starrte. Kündete auch ihm das Meer von Freiheit? Es schien so, denn die großen, wimpernlosen Augen, die immer tränten, weiteten sich beim Anblick des Wassers. Und als er den Blick auf mich richtete, schien ihn eine entfernte Ahnung von Verstehen zu streifen. Erschrocken hatte ich das deutliche Gefühl, daß Dankbarkeit in seinen Augen lag, als er wiederholte: »Schöön, Mama, schöön.« Glücklicherweise brach Fräulein Inès in einen ihrer unvermittelten Lachanfälle aus, die ihre schwarzen Locken, den Hals und den Busen erbeben ließen. Glücklicherweise, denn ich war kurz davor, vor diesem Mama – endlich mit kurzem a –, das mir galt, zu fliehen.
»Habt Ihr gehört, Fürstin? Er hat ›schön‹ gesagt. Mir hat er das schon ein paarmal gesagt, und viele andere Wörter auch. Aber wie ich befürchtet habe, schämt er sich vor Euch. Habt Ihr gesehen, wie schlank er geworden ist? Und wißt Ihr, daß er zusammen mit dem Gärtner schon beinahe den gesamten Zaun des Gemüsegartens gestrichen hat und daß seine Hände fast nicht mehr zittern?«
Mit wachsendem Schrecken beobachtete ich den Blick dieses armen »Dings«, das an Inès’ Lippen hing und mich dann mit so etwas wie Genugtuung ob seiner Heldentaten anschaute, von denen seine Tante, wie er sie jetztnannte, berichtete. Der Arme hatte einen ausgeprägten Familiensinn. Ich versuchte innerlich zu lachen. Aber bei dem Verdacht, daß er vom Leben ausgeschlossen war, nur weil man ihn weggesperrt hatte, und angesichts der Fortschritte, die er trotz seines Alters noch gemacht hatte, jetzt, da sich jemand mit ihm beschäftigte, kamen mir die Tränen. Schnell ging ich in mein Zimmer, wo ich stundenlang weinte. Habe ich um Ippolito geweint?
42
Das Meer erwartete mich, und ich betrachtete es mit Eriprandos Augen und seinem kindlich umherschweifenden Blick. Es war Sommer, und ich mußte dem geizigen Meer etwas von seiner Freiheit rauben. Dazu mußte ich es verstehen, es genauso mit dem Körper
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