Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
ich die Töne in hundert Schattierungen auf dem Flügel erklingen ließ. Seit Monaten erfaßte ich im Flug jedes neue Adjektiv und wiederholte es für mich, um es nicht zu vergessen. Mit der Zeit würde ich reden wie er, so wie es mir gelungen war, die einsame und unerreichbare Lava dieser kleinen Insel unter den Füßen zu spüren.
»Sitzt du etwa ohne Schirm in der Sonne, Modesta? So ruinierst du dir die Haut! Das habe ich dir oft genug gesagt. Du bist schon ganz braun geworden! Diese dunkle Haut wie die einer Bäuerin ist häßlich.«
»Nein, wenn ich mir erlauben darf, die Fürstin ist ihrer Zeit voraus. Und vielleicht weiß sie das auch. In Riccione gibt es viele Frauen, die unter ärztlicher Anleitung eine Heliotherapie machen. Die heilenden Eigenschaften der Sonne sind seit langem bekannt, nur daß diese Wahrheit wie immer dem Schamgefühl oder besser dem ästhetischen Ideal, hinter dem es sich verbirgt, widerspricht. Im letzten Sommer hat man skandalöse Badeanzüge gesehen, für die Ehemänner, versteht sich! Aber die Zeiten ändern sich, der Fortschritt läßt sich nicht aufhalten, und die Fürstin, liebe Beatrice, vollzieht entweder wissentlich oder instinktiv, oder aus Liebe zur Sonne, wie Ihr es zu nennen pflegt, einen Akt, der die Befreiung der Frau vorantreibt. Blässe und Zerbrechlichkeit sind im Grunde nur feine Fäden, um die weibliche Natur zu zügeln und zu zähmen, genau wie die Chinesen im Namen der Schönheit ihren Töchtern die Füße binden. Nein, nein Beatrice, keine Angst, ich sehe, daß ich Sie langweile, daran ist mein Beruf schuld: professionelle Verbildung.«
»Ich langweile mich nicht, Carlo, ich habe nur Lust bekommen, Fangreifen zu spielen, gehen wir?«
Die beiden laufen davon, um Fangreifen zu spielen. Beatrice hat ihm erlaubt, sie beim Vornamen zu nennen. Das ist richtig so, sie sind beide sehr jung. Wissentlich, Heliotherapie, professionelle Verbildung. Was für schöne Ausdrücke!
»Nein, Beatrice, nein! Ihr seid sehr freundlich, aber es ist sinnlos, daß Ihr Euch solche Mühe gebt, um die Fürstin für mich zu interessieren. Seht Ihr nicht, daß sie mir nicht nur nicht zuhört, sondern die Augen schließt, als ob …«
»Ich höre Euch sehr genau zu, und um Euch das zu beweisen, sage ich Euch, daß Ihr Sympathien für diese Sozialisten hegt, von denen soviel gesprochen wird.«
»Darf ich mir erlauben, zu fragen, woran Ihr das gemerkt habt?«
»Daran, wie Ihr vor ein paar Tagen über Frauen geredet habt.«
»Und Ihr wart nicht empört? Habt mich nicht davongejagt?«
»Wieso hätte ich das tun sollen?«
»Aber … Anwalt Santangelo hatte mir nahegelegt …«
»Anwalt Santangelo interessiert mich nicht. Vielmehr interessiert mich, mehr über Eure Sympathien zu erfahren. Ihr antwortet nicht?«
»Entschuldigt, Fürstin, ich bin verwirrt. Ihr schafft es immer wieder, mich zu überraschen. Ich hätte nicht gedacht, daß Ihr Euch für Politik interessiert.«
»Nein, wir interessieren uns überhaupt nicht für Politik, Modesta! Wie kommst du dazu, über so etwas zu scherzen? Siehst du nicht, daß du ihn in Verlegenheit bringst? Carlo hat gar nichts für diese Gottlosen übrig! Ich mag es nicht, wenn du so redest. Ich gehe jetzt schwimmen.«
»Nein, Doktor, ich rate Euch, ihr nicht zu folgen, Ihr würdet sie nur verlieren. Laßt sie schwimmen. Wir können ihr hinterher erklären, daß an diesen Sozialisten nichts Verwerfliches ist. Mit Beatrice braucht man Geduld und Zeit. Ihr zögert. Glaubt mir, es ist besser so. Früher oder später wäre es doch herausgekommen. Oder habt Ihr gehofft, daß Beatrice es nie entdecken würde? Was starrt Ihr mich so an?«
»Nicht deshalb. Es ist nur, daß ich Euch noch nie so lang und sanft habe reden hören. Eure Stimme verzaubert mich. Ihr solltet öfters sprechen.«
»Ihr habt mir nicht geantwortet. Wie seid Ihr Sozialist geworden?«
»An der Universität. Zwei oder drei wertvolle Begegnungen, und mir war alles klar.«
»Gibt es in Mailand viele Sozialisten?«
»Ja, sehr viele. Und in Turin noch mehr. Auch hier auf Sizilien gibt es viele von ihnen.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Kennt Ihr sie?« »Ehrlich gesagt, bin ich hier in Catania, um Kontakt zu den Genossen aufzunehmen.«
»Ach so! Jetzt verstehe ich, warum Ihr Euch in diesen Monaten nicht darum bemüht habt, außer uns noch andere Patienten zu finden. Das hat mich sehr überrascht. Aber ich habe es auf Euren Reichtum und, verzeiht, Eure Faulheit zurückgeführt.«
»Man muß
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