Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
breitschultrige Monokel, da ein hinkender Faun und dazwischen, halb von einem wild behaarten Fängge verborgen, ein Wicht mit weit aufgerissenen, riesigen Augen. Schritt für Schritt schleppten sie sich voran, von einer Reihe Jünger geführt, von zwei weiteren zu beiden Seiten eingekesselt.
»Die Armen«, hörte er Lubbe neben sich flüstern.
Erst als die vorangehenden Jünger das Podest erreicht hatten, kam die traurige Prozession zum Stehen und teilte sich. Das Podest war jetzt ganz von Leibern umstanden. Zu drei Seiten Jünger, an der vierten bildeten die Gefangenen eine schmale Gasse.
Jonas starrte sich die Augen aus dem Kopf. War Ruben dabei? Er suchte die Reihen ab. Als er den Monokel aus dem Hof entdeckte, das weiße Hemd und das schwarze Haar, zuckte er einmal. Doch er wusste es besser.
Wieder stöhnte der ganze Platz. Eilig sah Jonas zum Kloster hinüber und erkannte gleich Faramunds fahlen, nackten Schädel. Ein Weihrauchfässchen schwenkend, schritt der Abt langsam durch das große Tor. Die Wolken, die von seinem Fass aufstiegen, waren so farblos wie der Himmel.
Die Jünger auf dem Platz fielen auf die Knie, nicht ohne vorher dafür gesorgt zu haben, dass auch die Gefangenen niederknieten. Dann begannen sie zu beten.
»Hirte! Sieh Dein Kind, das hier kniet,
Hirte! Wo Dein Wille geschieht.
Hirte! Stürzt die alte Welt ein,
Hirte! Wird die Deine bald sein.«
Jonas jagten Schauer über den Rücken. Die Jünger wiederholten ihr Gebet wieder und wieder, bis das »Hirte!« am Beginn jedes neuen Verses wie ein scharfes, heiseres Bellen klang.
Faramund war stehen geblieben, mechanisch das Weihrauchfass schwenkend.
»Er kommt!«, flüsterte Lubbe aufgeregt. »Heilige Scheiße, er ist es selbst!«
Im Tor erschien ein Mann auf einem langsam dahintrottenden Esel. Der Mann war groß, seine Beine hingen, von den Falten der weiten Kutte verborgen, fast bis auf den Boden herab. Seine Hände lagen reglos in seinem Schoß, das Gesicht war von der Kapuze völlig verborgen.
»Ist das …?«, flüsterte Jonas. Der Reiter kam ihm vor wie der Tod.
»Ja«, sagte Lubbe leise. »Das ist er.«
Jonas wandte sich zu ihm um. »Der Hirte?«
»Schh!«, zischte Lubbe ärgerlich, aber aus seinem Ärger wurde gleich Verblüffung. »He!«, stieß er hervor.
Jonas erstarrte.
»Ist das dein Freund?«, flüsterte Lubbe.
Jonas antwortete nicht. Aber es war wirklich Ruben, der da hinter dem Esel herstolperte! Sein Hemd war zerrissen, die Hände hatte man ihm vor den Bauch gebunden, das Haar hing ihm schmutzig ins Gesicht. Der Hirte zog Ruben an einem Strick hinter sich her! Jonas stöhnte auf.
»Sei doch froh!«, zischte Lubbe neben ihm. »Er ist am Leben!«
Entsetzt sah Jonas zu, wie die Dreiergruppe sich der Gasse der Gefangenen näherte. Faramund, den Weihrauch schwenkend, der Hirte auf seinem Esel, Ruben.
Die Jünger beteten unaufhörlich. » Hirte! «, bellten sie. » Hirte! «
Jonas packte der Zorn. Er ballte die Fäuste, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten und biss die Zähne so fest zusammen, dass der Kiefer schmerzte.
»Ruhig, Jonas Nichts.« Lubbe tastete nach ihm und legte ihm die Hand auf den Rücken. »Tu jetzt nichts, was du später bereust!«
Der Hirte ritt durch die Gasse. Als er das Podest erreicht hatte, glitt er von seinem Esel. Er war groß und hager, Faramund wirkte klein neben ihm. Ruben blieb erschöpft stehen. Er taumelte. Der Abt hielt den Esel.
» Hirte! «, bellten die Jünger ein letztes Mal, dann wurde es totenstill.
Mit einem einzigen Schritt erklomm der Hirte das Podest. Er breitete die Arme aus und hob sie dann zum bleichen Himmel empor. So verharrte er eine Weile, dann riss er abrupt seine Kapuze zurück.
»Nein!«, entfuhr es Jonas.
»Was … was ist denn?« Lubbes Hand tastete schon wieder nach ihm.
»Nein«, sagte Jonas noch einmal. »Irmingast«, flüsterte er dann.
»Was?«, flüsterte der Faun. »Was sagst du?«
Plötzlich hatte Jonas das Gefühl, zu fallen. Er fiel immer tiefer und tiefer, ins Bodenlose. Irmingast! Der Mann dort unten auf dem Podest war Irmingast! Irmingast war der Hirte.
»Jonas? Jonas Nichts?« Lubbe rüttelte an ihm, bis Jonas die haarige Hand des Fauns abschüttelte.
Auf einmal konnte sein Hals den Kopf nicht mehr tragen. Jonas barg die Stirn in seinen kalten Händen. Er musste verstehen! Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber das war beinahe unmöglich. Es gab so vieles, das er nicht verstand. Eines aber begriff er doch – Alma und
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