Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
sehen.
Jonas tastete nach dem Treppengeländer, hielt sich daran fest und schob einen Fuß in den Spinnwebenberg, bis er auf Widerstand stieß. Da war die erste Stufe! Jonas verlagerte das Gewicht auf den vorausgeschickten Fuß und fing an, sich durch die Spinnweben nach oben zu kämpfen. Erst reichten ihm die klebrigen Fäden bis zur Hüfte, dann bis an die Brust. Er musste wieder husten.
Auf halber Treppe blieb er stehen. War da nicht ein Geräusch gewesen? Oberhalb der Treppe?
Er spitzte die Ohren. Ein Schritt? Vielleicht?
»Ist da wer?«, rief er. »Ist da jemand?«
Er lauschte.
Nichts.
Gerade wollte er weitersteigen, da hörte er eine schwache Stimme.
»Nicht!«
»Hallo?«, rief Jonas.
»Nicht!«
Wer immer da sprach, er hatte noch mehr Angst als Jonas.
»Ich bin auf der Treppe«, sagte Jonas. »Ich komme jetzt rauf. In Ordnung?« Er wollte beruhigend klingen.
Wer konnte da oben nur sein?
»Nicht! Da ist keine Treppe.«
Jonas hatte bereits die nächsten zwei Stufen erklommen. Er verharrte mitten in der Bewegung.
Keine Treppe?
»Komm nicht hoch! Nicht!«, wimmerte es.
»Aber …« Jonas fasste das Geländer fester und fand die nächste Stufe. »Aber ich bin doch schon auf der Treppe!«, rief er.
»Nein! Nein!«, kam es dünn zurück. »Du täuschst dich.«
Jonas hatte die letzte Windung der Treppe erreicht und konnte jetzt, über die wallenden Weben hinweg, ins nächste Stockwerk sehen. Leere, graue Wände in totem, grauen Licht. War da wirklich jemand? Jonas hörte wieder Schritte. Eilige Schritte.
»Halt! Laufen Sie nicht weg! Hier bin ich!« Halb zog sich Jonas die letzten Stufen hinauf, stolperte, weil er nicht sah, wohin er trat, und polterte schließlich auf ebenen Boden. Der Fußboden hier war ganz mit Spinnweben bedeckt. Ein wenig sahen sie aus wie Nebel.
Zunächst wusste Jonas nicht, wohin. »Ich tue Ihnen nichts«, rief er.
Der andere versteckte sich vor ihm. Er hatte Angst. Oder?
Etwas kratzte.
Wie staubig es hier war! Wie grau! Alle Farben fehlten.
Jonas stand in einem schmalen Gang und schaute auf drei leere Türrahmen. Das eine Ende des Gangs führte zu einem spinnwebenverklebten Fenster. Sonst nichts – keine Möbel, keine Vorhänge. Nur Fäden und Staub.
»Geh weg!«, kreischte der andere.
Erschrocken trat Jonas einen Schritt zurück, ruderte mit den Armen und glaubte schon die Treppe hinabzustürzen. Stattdessen stieß er gegen eine Wand. Er fuhr herum. Die Treppe war fort! Aber er war sie doch gerade erst hinaufgestiegen!
»Siehst du?«, zeterte es. »Keine Treppe!« Die Stimme kam aus einem der angrenzenden Zimmer und da krallte sich auch schon eine Hand um den Türrahmen. Nicht einmal sie hatte eine Farbe. Ihre Haut war dünn und durchscheinend.
Jonas verdrängte den Gedanken an die verschwundene Treppe. »Wer sind Sie?«, fragte er.
Die Hand verschwand. Jonas hörte sonderbar unregelmäßige Schritte, die sich entfernten.
»Jetzt warten Sie doch!« Er lief in das Zimmer hinein. Es war riesig, so groß wie ein Saal. Ganz an seinem Ende sah er eine Gestalt. Es war ein Mann. Sein Rock war weiß vom Staub, über den Kragen fielen lange, dünne Haare. So schnell er konnte, hinkte er durch den Bodennebel der Spinnfäden davon.
»Halt!« Etwas in Jonas rastete ein. Auf einmal wusste er, wer da vor ihm flüchtete. Der Mann hinkte. Wie eine pendelnde Waage.
»Arnon Blau!«, rief er und seine Stimme grollte plötzlich vor Zorn. »Arnon Blau!« Er hätte sich auf ihn stürzen können. Dieser Mann dort hatte Core auf dem Gewissen!
Die Gestalt hatte die gegenüberliegende Wand erreicht und presste sich rücklings gegen sie. Arnon Blau saß in der Falle. Es gab nur die eine Tür.
Jonas ging langsam auf ihn zu. Wie ein Einsiedel sah der Kerl aus, ein schütterer Bart fiel ihm bis auf die Brust. Wie ein Irrer presste er die Handflächen gegen die Wand und riss die Augen auf. Rote, entzündete Augen.
»Geh weg!«, kreischte er. »Hier ist niemand! Niemand!«
Jonas blieb stehen, noch ein halbes Dutzend Schritte von Arnon Blau entfernt. Warum hatte Ruben ihn hergeschickt? Um Arnon Blau zu finden, der Core ermordet hatte?
Voller Wut musterte er die armselige, heruntergekommene Gestalt, bis Arnon Blaus angstverzerrte Züge sich von einem Augenblick auf den nächsten völlig veränderten. Er strahlte plötzlich über das ganze, leichenblasse Gesicht.
»Du?«, rief er, stürzte nach vorn und fiel vor Jonas auf die Knie. »Du?« Mit zitternden Fingern griff er nach Jonas’
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