Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Junge. Du musst denken, dass ich, verglichen mit den beiden Damen, ein junger Hüpfer bin. Aber anscheinend waren Clara und Alma jahrzehntelang ein Herz und eine Seele. Habe ich dir erzählt, dass die beiden zusammen groß geworden sind? Hier auf Wunderlich? Stell dir vor, sie hatten nur einander. Als Kinder. Und später auch. Aber irgendwann müssen sie sich zerstritten haben. In den letzten Jahren haben sie kaum mehr miteinander geredet.« Er seufzte.
Jonas versuchte, sich Alma als Kind vorzustellen, aber das war unmöglich. »Und Irmingast?«, fragte er dann.
Peregrin Aber ließ die Umzäunung wieder los und wandte sich vom Grab ab. Gemeinsam sahen sie nun auf Wunderlich hinab. Das Anwesen lag in einer Senke. Vier Flügel umschlossen einen Innenhof, aus dem der kreisrunde Turm ragte, dessen Zinnen Jonas gestern Nacht schon gesehen hatte.
»Um Irmingast gab es wohl auch Streit«, antwortete der Advokat. »Er ist seit vielen Jahren Almas Beichtvater. Sie lesen gemeinsam die Bibel und beten, und Alma will partout nicht auf ihn verzichten. Aber Clara mochte Irmingast nie besonders. Und dann ist da noch diese seltsame Sache mit dem Spielzimmer. Deshalb wurde auch gestritten, soweit ich weiß. Ruben, wo ist dieses Spielzimmer eigentlich?«
Der Diener stand jetzt in ihrem Rücken, auch er sah auf die alten Mauern Wunderlichs hinab. Peregrin Abers Frage beantwortete er nicht. Er hätte nur auf einen Teil von Wunderlich zeigen müssen, aber stattdessen schüttelte er den Kopf. Warum machte er nur aus allem ein Geheimnis?
Plötzlich, und wenn auch nur für einen Augenblick, war Jonas wütend auf Ruben, der so viel wissen musste und nichts preisgab.
»Na ja.« Peregrin Aber schien sich ein für alle Mal mit Rubens Verschlossenheit abgefunden zu haben. »Auf jeden Fall verschwindet Alma stundenlang in diesem Spielzimmer. Was immer sie da treibt.« Dann hielt er inne. »Für dich ist das aber kein Grund, neugierig zu werden, Jonas. Verstanden? Das Spielzimmer ist tabu. Wie es im Testament steht. Ich sollte gar nicht darüber reden.« Er fasste seinen Spazierstock fester. »Über etwas anderes müssen wir aber reden, Junge. Auch wenn es unangenehm ist.«
Jonas wartete ungeduldig, bis der Advokat weitersprach.
»Du erinnerst dich an den letzten Absatz im Testament?«
Jonas schüttelte den Kopf. Er gab sich große Mühe, die Testamentseröffnung zu vergessen.
»Doch.« In Peregrin Abers Stimme schwang ein sanfter Vorwurf mit. »Natürlich erinnerst du dich! Der letzte Absatz besagt, dass, wenn du …« Peregrin Aber sah etwas betreten auf das schmutzig gelbe Gras zu seinen Füßen. Dann sprach er schnell weiter. »… dass, wenn du ums Leben kommst, Alma Wunderlich verlassen muss.« Der Advokat sah wieder auf. Seine Stirn lag in Falten. »Hand aufs Herz, Junge! Dieser Passus macht mir Sorge. Er klingt wie eine Lebensversicherung. Verstehst du, was ich sagen will? Dieser Teil des Testaments klingt, als hätte es Clara für nötig gehalten, dein Leben zu versichern. Kannst du mir folgen?«
Jonas konnte nicht. »Haben Sie Clara denn nicht gefragt, was das bedeuten soll?«, fragte er.
»Doch, natürlich«, sagte Peregrin Aber nachdenklich. »Nur habe ich keine Antwort bekommen. Weder zu diesem Passus noch zu diesem merkwürdigen Verbot, das Spielzimmer zu betreten. Clara war in beiden Fragen so verschlossen wie unser stummer Freund hier.« Der Advokat bedachte Ruben mit einer vagen Geste.
»Junge!«, setzte der Advokat dann wieder an. »Ich will dir nichts vormachen. Der Passus klingt so, als könnte Alma dir nach dem Leben trachten. Oder besser gesagt – als wäre Clara davon ausgegangen, dass Alma dir ohne diesen Passus nach dem Leben trachten würde. Verstehst du mich jetzt?«
Jonas schluckte schwer. Clara hatte befürchtet, dass Alma ihn ermorden würde. Das war es, was Peregrin Aber ihm beizubringen versuchte.
»Wann kommen Sie wieder?«, flüsterte Jonas. Es war plötzlich noch viel schrecklicher, dass Peregrin Aber abreiste.
»In ein paar Wochen, Junge. Spätestens zu Weihnachten.« Peregrin Aber fasste ihn am Arm. »Ruben bringt mich mit der Kutsche in die Stadt. Es geht nicht anders. Aber er wird spätestens morgen wieder da sein. Wirst du dich in Acht nehmen?«
Jonas kämpfte mit den Tränen.
»Versprichst du das?«
Er wollte nicht weinen.
»Jonas?«
Jonas starrte auf Wunderlich hinab. Er hörte den Advokaten, aber er verstand ihn nicht. Wie ein Stachel ragte der Turm dort unten aus der Mitte des alten
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