Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts

donnerte der Anführer.
    Es wurde gezogen und gezerrt, und dann, erst dann erkannte Jonas den Schatten. Einer der beiden Soldaten, die ihn gefasst hatten, drehte ihm die Arme auf den Rücken. Der Gefangene streckte den Kopf vor, das halblange Haar hing ihm wild in die Stirn.
    Es war Ruben!
    Im selben Moment schloss sich Ole Monds Hand um Jonas’ aufgerissenen Mund. Jonas versuchte sich loszuwinden, und wurde mit einem Rempler in die Rippen bestraft.
    »Halt bloß den Rand!«, zischte Ole.
    Aber Jonas gab noch nicht auf. Mit beiden Händen griff er nach Oles Arm, der ihm den Mund verschloss. Die Taubheit war fort, in ihm war jetzt alles in Aufruhr. Mit einem Mal hatte er ungeheure Kräfte.
    Ruben! Er musste zu Ruben!
    Ole ließ los. »Wenn du ihm helfen willst, dann hältst du jetzt still.«
    Jonas sank augenblicklich in sich zusammen. Ole hatte recht. Was konnten zwei Jungen gegen ein Dutzend Soldaten ausrichten? Es war zu spät.
    Er sah wieder auf, ganz und gar mutlos.
    »Wer seid Ihr?« Der Anführer hatte sich vor Ruben aufgebaut, das Kinn gereckt, die Brust geschwollen.
    Aber Ruben würde nicht antworten. Er konnte nicht antworten. Er war stumm. Jonas’ Fäuste schlossen sich. Er biss sich wieder auf die Zähne.
    »Raus mit der Sprache, du Bandit! Was schleichst du hier herum?«
    Und dann geschah etwas, das viel unglaublicher war als jeder Wicht und jeder Basilisk, etwas, das durch und durch unwahrscheinlich war. Jonas hörte, wie sein Name gerufen wurde. Er hörte eine Stimme, die er noch nie gehört hatte und doch erkannte. Es war Rubens Stimme.
    »Jonas!«
    Aber das konnte nicht sein. Konnte nicht. Konnte …
    »Jonas!«
    Der Soldat in seinem Rücken riss Ruben zurück, Jonas meinte, den Ruck zwischen den Schulterblättern zu spüren. Aber Ruben brüllte weiter, am Anführer vorbei, einfach in die Nacht hinein.
    »Hüte dich vor dem Hirten! Jonas! Hörst du! Hüte dich vor dem Hirten!«
    Wieso konnte er sprechen? Warum?
    Der Soldat riss Ruben zu Boden.
    »Stopft ihm das Maul!«, schrie der Anführer wütend.
    Aber Ruben rief immer noch. »Jonas! Such den Spinnenpalast! Den Spinnen…!« Dann erst erstickte seine Stimme. Drei Soldaten waren jetzt über ihm, ein Knäuel aus Leibern. Ruben hatte keine Chance.
    Jonas ließ den Kopf sinken. Alle Kraft hatte ihn verlassen. Er zitterte am ganzen Körper. Plötzlich war ihm eisig kalt.
    Dann spürte er Oles warmen Atem an seinem Ohr. »Weg hier!«
    Aber Jonas rührte sich nicht. Er hatte die Augen geschlossen, das Gesicht gegen den Waldboden gepresst. Ole sollte abhauen – ihn allein lassen – jetzt!
    Aber Ole dachte gar nicht daran. Er zerrte an Jonas’ Arm. Er flüsterte.
    »Du kannst ihm nicht helfen. Nicht jetzt. Also mach schon!«
    Nein, dachte Jonas, aber dieser Gedanke war so kraftlos wie er selbst.
    »Komm jetzt!«, fluchte Ole. »Komm!«

Das 14. Kapitel
liefert einige höchst unvollständige Erklärungen Ole Monds
    Sie kauerten am Waldrand, unter ihnen floss das Gras sanft eine Senke hinab. Schon am frühen Morgen war der Himmel blauer als blau, die strahlend weißen Wölkchen wirkten wie ausgestanzt und auch das Tirili der kleinen gelben Vögel in den Bäumen blieb sich immer gleich.
    In Jonas’ Ohren klang es wie Spott. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und versuchte nachzudenken. Bis jetzt hatte er kaum eine Gelegenheit dazu gehabt. Ole Mond hatte ihn durch den nächtlichen Wald geschleift, und erst als die Sonne sich schon wieder dieser seltsamen Welt zuwandte, hatten sie Rast gemacht, ganz außer Atem. Jonas hatte nicht die geringste Vorstellung, wohin Ole ihn führte, aber er war ihm willenlos gefolgt, immer noch wie betäubt.
    Ole kaute geräuschvoll, er schien einen schier unerschöpflichen Vorrat an Äpfeln zu besitzen.
    »Ich weiß, wo sie ihn hinbringen«, sagte er undeutlich.
    Von gelegentlichen Zurufen Oles und bruchstückhaften Fragen, die Jonas in der Nacht zwar gestellt, aber nicht beantwortet bekommen hatte, waren das die ersten Worte, seit Ruben in die Fänge der Soldaten geraten war. Jonas musste immer daran denken. Er sah Ruben vor sich und hörte ihn rufen und verstand jedes Wort und doch nichts.
    Hüte dich vor dem Hirten!
    Such den Spinnenpalast!
    Aber warum konnte Ruben plötzlich sprechen? Hatte er sich in Wunderlich nur stumm gestellt ? Immerhin – er war aus dem Turm entkommen, unverletzt. Das war die gute Nachricht. Jonas seufzte.
    »Hörst du mich eigentlich?«, fragte Ole Mond.
    »Ja«, sagte Jonas leise.