Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
fürchte. Alles klar?« Mit der rechten Hand griff er sich an sein linkes Ohr. »Siehst du das hier?«
Jonas trat einen Schritt näher, zögernd. Durch Oles Ohrläppchen war ein kleiner goldener Ring gestochen.
Ole Mond hatte sich wieder aufgerichtet und funkelte ihn an. »Ich hab das selber gemacht«, sagte er. »Ich bin nämlich viel unterwegs, weißt du? Ich bin ständig unterwegs, immer eigentlich. Ich bin ein Wanderer, ja? Und wenn mir einer mal was tun sollte und ich dann in meinem Blut liege und mich dann einer findet, dann darf er den Ohrring dafür nehmen, dass er mir ein Grab schaufelt. So ist das. Der Ohrring ist aus purem Gold.« Ole verschränkte die Arme. »Ich«, sagte er, »habe keine Angst.«
Dafür hatte Jonas jetzt welche. Er starrte Ole an und versuchte die Angst herunterzuwürgen wie einen ekelhaften, knorpeligen Brocken Fleisch.
»Sag mal«, sagte Ole. »Siehst du mit beiden Augen eigentlich dasselbe?« Mit blanker Neugier schaute er Jonas ins Gesicht. »Hab ich noch nie gesehen, zwei verschiedene Augen.«
»Ja«, knurrte Jonas. »Ich sehe mit beiden Augen dich.«
Ole Mond legte den Kopf schief. »Sei’s drum.« Er fasste wieder nach seinem Ohr. »Die Seeleute machen das so mit dem Ohrring«, erklärte er. »Das hab ich mal gehört. Auch wenn es hier gar keine Seeleute gibt. Ich habe jedenfalls noch nie welche getroffen. Weit und breit kein Meer.« Er wandte sich wieder seinem Rucksack zu. »Kein Feuer also«, murmelte er.
»Ja, kein Feuer wäre besser. Danke«, sagte Jonas. Er war ganz zerrissen. Einerseits war er froh, dass Ole Mond aufgetaucht war. Andererseits strengte es ihn an. Er musste seine Gedanken beisammenhalten. Er durfte sich nicht verraten. Er musste doch wachsam sein. Die Dunkelheit kam jetzt mit Riesenschritten.
»Willst du hier bleiben über Nacht?« Mit einiger Mühe zog Ole ein wirres Knäuel aus dem prallen Rucksack und schüttelte es so lange aus, bis es wie eine Decke aussah. Er breitete sie aus. »Setz dich«, sagte er. »Erst essen wir drauf, dann schlafen wir drunter.« Er zuckte zweimal mit den Augenbrauen, aufmunternd.
»Ich bin nicht müde«, sagte Jonas. Das war glattweg gelogen. Er war so erschöpft, dass es wehtat, aber er durfte doch nicht schlafen. Schnell sah er zu den Hügeln hinüber, doch es war schon fast nichts mehr zu erkennen. Was, wenn Ruben in der Nacht einfach an ihm vorbeiliefe?
Ole Mond grunzte, griff wieder in den Rucksack und holte zwei Äpfel und ein dickes Stück Brot hervor. »Da«, sagte er, brach das Brot entzwei und hielt Jonas eine Hälfte hin. »Jetzt setz dich doch endlich.«
Es tat gut, die Beine auszustrecken.
Sie aßen schweigend. Ole Mond schmatzte laut.
»Dieses Plakat …«, sagte er, als er das Gehäuse seines Apfels schließlich in die Dunkelheit zwischen den Bäumen pfefferte. »Über dieses Plakat musst du dir keine Sorgen machen. Solche wie dich und mich suchen sie nämlich nicht. Du bist wahrscheinlich , ja? Bis auf die Augen vielleicht. Aber sonst wahrscheinlich. Aber das weißt du ja schon alles, nehme ich an.«
»Ja. Klar«, log Jonas. »Weiß ich alles. Weiß doch jeder.«
»Hm-m«, machte Ole Mond. Er glaubte Jonas kein Wort, so viel war klar.
Wahrscheinlich , dachte Jonas. Was sollte das bloß heißen? Es konnte wahrscheinlich Regen geben. Eine Kuh konnte wahrscheinlich morgen kalben. Aber konnte jemand wahrscheinlich sein ?
»So einer wie Krempel zum Beispiel ist nicht wahrscheinlich«, sagte Ole wie zu sich selbst. »Obwohl das natürlich schwer zu entscheiden ist. Es gibt keine Regel. Außer die, die die Kaiserin aufgestellt hat, natürlich.«
»Natürlich«, sagte Jonas beflissen. Zu seiner Beruhigung war ein halber Mond aufgegangen und warf ein wenig Licht. Jonas spähte über die Hügel. Viel sehen konnte er nicht. Er wandte sich wieder seinem neuen Bekannten zu. Ole macht seinem Namen Ehre. Sein Gesicht war so bleich wie das Mondlicht.
»Nichts zu sehen, was?«, sagte Ole mitfühlend. »Pass nur auf. Dein Freund kommt schon noch.«
Für einen Moment erstarb das Gespräch. In den Bäumen über ihnen knisterte und knackte es, als legten sich die Äste und Zweige zur Ruh.
»Man muss es einfach wissen«, sagte Ole Mond nach einer Weile. »Von selber kommt man nicht drauf. Ein Wicht zum Beispiel ist unwahrscheinlich. Ein Trabant dagegen ist wahrscheinlich.« Er deutete auf den Baum gegenüber. »Ein Pfau ist wieder wahrscheinlich. Ein Basilisk ist aber unwahrscheinlich. Was irgendwie unlogisch
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