Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
zu klopfen. Aber dann zog er sich lieber doch gleich zurück, seitlich am schweren Vorhang vorbei, immer im Schutz des nahen Kandelabers.
Leopold war mittlerweile bis ans andere Ende des Saals geschwebt, die Musik war nur noch ein Hauch, ein Teppich sanfter Klänge – ohne Hörner, ohne Blech, bis auch die Streicher langsam verklangen.
Jonas stellte sich vor, wie der Trabant hinter dem Vorhang Geige und Bogen sinken ließ.
Leopold stand plötzlich ganz verloren da, die Arme immer noch um den eigenen Leib geschlungen.
Jonas’ Atem ging wieder schneller. Bis auf das tausendfache Knistern der Kerzen war es jetzt still im Saal. Der richtige Moment war gekommen – wenn es denn einen richtigen Moment gab.
Jonas trat aus der Deckung. Er spürte die Hitze der Kerzen, seine Schritte kamen ihm plump vor und entsetzlich laut.
Leopold ließ die Arme sinken und öffnete die Augen.
Jonas horchte auf ein fernes Echo der Stimme des Marquis. Immer schön unterwürfig, hörst du? Er sank auf die Knie.
»Hoher König!«, fing er an. »Ihr seid gnadenreich und barmherzig. Ich … ich … ich …« Leopold starrte ihn an, nicht erschreckt, bloß verwundert. Er hatte die Arme vor der mit Orden behängten Brust verschränkt. Jonas wusste nicht, mit welcher Reaktion er gerechnet hatte, aber so brachte ihn Leopold völlig durcheinander.
»Ich … ich … ich …«, stotterte er weiter. Er verlor die Nerven.
»Ja?«, sagte Leopold leise.
Jonas verstummte. Er hatte die Chance vertan! Das war ein schreckliches Gefühl.
»Ja?«, sagte Leopold noch einmal, diesmal ganz sanft, und ging selbst auf die Knie.
Jonas erstarrte. Er war bloß noch ein Bündel aus Angst und Enttäuschung.
»Sag!«, flüsterte Leopold. »Du bist ein armer Junge, ja?« Er streckte den langen Arm aus und befühlte den Kragen von Jonas’ Joppe. »Ich weiß, dass dieses Weibsbild meine Untertanen nicht gut behandelt. Oh ja, ich weiß das.« Voller Gefühl sah Leopold Jonas an. »Es müsste alles wohl gerichtet werden, ich weiß das, aber sie wird es niemals tun. Sie hat keinen Funken Majestätsgefühl, weißt du das, du Aschenputtel? Oh ja, es ist ganz schauderhaft und furchtbar arg! Man müsste sie scharf an den Ohren zerren dafür, dass sie euch so schlecht behandelt! Ihr braucht Kuchen, nicht wahr? Feinen Braten! Zuckerwerk! Ach!« Leopold ließ sich ziemlich unmajestätisch auf den weißen Hosenboden plumpsen und umarmte seine Knie.
Zusammen saßen sie nun in diesem riesigen Saal, ganz allein, auf dem Boden. Jonas wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ihm fiel kein einziges Wort ein, das er hätte sagen können.
Aber Leopold schien auch gar nichts von ihm zu erwarten. »Wenn ich Kaiser wäre, du kleiner Froschkönig, dann hättet ihr das Paradies. Ihr! Meine Untertanen! Ihr sollt mich ja lieben, nicht wahr? Nicht vergöttern, nicht fürchten! Lieben! Ach!« Er strich sich die im Kerzenschein glänzenden Locken in Form. Er war ganz bei sich selbst.
Jonas versuchte noch, sich zu sammeln. Der Saal, die Musik, der Tanz hätten genügt, ihn zu verunsichern, aber am meisten verblüffte ihn jetzt, dass er Leopold auf einmal mochte. Der Erbprinz hatte viele Seiten, und jetzt – Jonas dachte an Lunette – war das Wetter auf Jupiter lieblich.
»Sag, du kleiner, zerlumpter Märchenprinz – hast du einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?« Leopold sah ihn versonnen an. »Kann ich dich glücklich machen? Möchtest du einmal ins Paradies schauen? Ich könnte für dich musizieren lassen. Oder wie wäre es mit einem Festmahl? Fünf Gänge! Ach was! Zehn! Sorbet! Oder willst du lieber eine fesche Uniform? Einen Diamanten? Willst du …«
»Ich …«, fing Jonas an. Er hatte Leopold nicht unterbrechen wollen, es kam nur so heraus.
»Ja?« Leopolds Stimme war samtweich.
»Der General Grimbert …«, sagte Jonas stockend. »Er hat meinen … Onkel festgenommen. Dabei …«
Er kam nicht weiter. Das Blut war Leopold ins Gesicht gestiegen. Er wütete. »Grimbert! Dieser Grobian! Oh, wie ich alles Militärische hasse! Es ist mir fremd! Es hat keine Poesie! Es ist …« Er unterbrach sich, das Gesicht jetzt weniger rot. »Ist dein Onkel ein Wicht? Ein Alb? Ein Faun?«
Jonas schüttelte den Kopf. »Er ist wahrscheinlich«, murmelte er.
»Ach!«, rief Leopold ärgerlich aus. »Das ist Unfug! Das ist ihr dummer, dummer Unfug! Und daraus spricht ihre ganze Seelenlosigkeit! Alles wahrhaft Poetische ist unwahrscheinlich. Und alles Wahrscheinliche ist wahrhaft unpoetisch.
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