Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
sich bloß nicht vorstellen.
»Ole muss jetzt verschwinden«, fuhr der Marquis fort. »Aber wir beide können abwarten. Einverstanden?«
Jonas kam nicht dazu, zu antworten.
»Ich werde nicht verschwinden«, sagte Ole, klar und deutlich.
»Bitte?« Lunette war ehrlich verblüfft.
»Es ist zu wichtig«, sagte Ole mit fester Stimme. »Ich weiß nicht, was hier passiert. Aber hier passiert was und es ist wichtig. Ich bleibe.«
Lunette schwieg eine kleine Ewigkeit. »Wie du willst«, sagte er schließlich, kühl, aber nicht sehr. Dann sah er Jonas an, lange und nachdenklich. Auch das Rot auf seinen Wangen war verwischt. »Ich finde, er sollte die alten Geschichten kennen, Ole«, sagte Lunette schließlich.
Oles Blick verfinsterte sich. »Es ist gefährlich, wenn man sie kennt«, knurrte er.
»Und es kann noch gefährlicher sein, sie nicht zu kennen.« Der Marquis sah den Flammen zu, wie sie hinter dem Kamingitter um sich schlugen. »Du hast ja recht, Ole«, sagte er schließlich leise. »Etwas geschieht. Und genau deshalb sollte er Bescheid wissen.« Er räusperte sich. »Also, hör gut zu, Jonas! Vielleicht klingen die Geschichten in deinen Ohren anders als in meinen.«
Der Himmel vor den Fenstern war rabenschwarz, der Tumult im Schloss schien ferner, als er war. Jonas spitzte die Ohren.
»Ai und Cai hatten gestritten. Erinnere dich.« Lunette sprach mit gedämpfter Stimme. »Und wir Sieben lebten seitdem in zwei Reichen – in Kanaria und in der Ferne. Wir wussten wenig voneinander, zwischen uns lag Callamaar. Nicht mehr das alte, lebendige Callamaar allerdings, das es gewesen war. Zuweilen war ich dort, dann schließlich gar nicht mehr, weil die Kaiserin es nicht gern sah. Überhaupt erließ sie immer mehr Verbote. Die meisten davon richteten sich gegen die Wichte, die Fängge, die Faune, Alben und Monokel. Auf einmal galten sie als unwahrscheinlich – nicht mal Grimbert, der damals noch zum Schachspielen kam, konnte es begreifen.« Lunette wies auf das Schachspiel auf dem Tisch. Schwarz bedrängte Weiß, immer noch.
»Erst«, fuhr Lunette fort, »durften sie die Grenze nach Kanaria nicht überschreiten, dann wurden sie höchstrichterlich gesucht. Es kam zu den ersten Prozessen – Prozesse gegen die Unwahrscheinlichkeit , hieß es –, und Cai, hörte man, zürnte in der Ferne.«
Jonas war vor Aufmerksamkeit ganz steif. Alles um ihn herum war vergessen, für den Moment zählte nur die Stimme des Marquis.
»Aber es sollte noch viel schlimmer kommen«, sagte Lunette mit rauer Stimme. »Cai verließ uns alle – es ist schwer, das zu erklären. Sie war nie Kanarias Schutzgeist gewesen, und doch hatte ich immer ihre Anwesenheit spüren können, verstehst du? Ich konnte ihr Dasein spüren – wenn auch von fern. Doch eines Tages war dieses Gefühl fort und dann ging alles Schlag auf Schlag. Eines Nachts verließ uns Faramund, der Mönch. Zunächst blieb er spurlos verschwunden, dann hörte man, dass er in Callamaar sei. Er war es, und die Stadt veränderte ihr Gesicht. Faramund schwang sich zu ihrem Herrscher auf. So dachten wir wenigstens – bis wir zum ersten Mal vom …« Er zögerte. »Bis wir zum ersten Mal vom Hirten hörten. Faramund war in seine Dienste getreten, und über der Stadt, auf einem Hügel, wurde der Grundstein für das Schwarze Kloster gelegt.« Lunette sah Ole an. »Ich habe es nie gesehen, aber es ist immer noch im Bau. Richtig, Ole?«
Ole Mond rieb seinen Ohrring mit Daumen und Zeigefinger, er schien das immer zu tun – wenigstens oft –, wenn die Rede auf den Hirten kam. »Das Schwarze Kloster ist riesig«, sagte er leise. »Es wird immer größer.«
»Woher kam der … Hirte?«, fragte Jonas. Er konnte Rubens Stimme immer noch hören. Hüte dich .
Lunette legte die Stirn in Falten. »Niemand weiß es«, sagte er. »Er kam aus dem Nichts. Anders kann ich es nicht sagen. Und er blieb ein Geheimnis. Niemand lernte ihn kennen, so wie man die Kaiserin kennen kann. Faramund ist sein Ohr, sein Mund, seine Hand. Der …« Er zögerte wieder. » Er zeigt sich äußerst selten. Ole, dieser Teufelskerl, hat ihn gesehen. Ich nie.«
Aber Ole schwieg.
»Und dann?«, fragte Jonas.
»Dann«, flüsterte Lunette, »geschah das Schlimmste. Core starb, von Cai, ihrem Schutzgeist, verlassen.«
Jonas legte den Kopf in die Hände. Sie war gestorben . Eine rätselhafte Trauer überfiel ihn. Core – Herz und Seele, hatte Lunette gesagt. Plötzlich war Jonas weit, weit weg – er wusste selbst
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