Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
musste Leopolds Schlafzimmer sein.
Jonas ging auf Zehenspitzen weiter, am Bett mit seinem gewaltigen Baldachin vorbei. Er rechnete gar nicht mehr damit, dass jemand im Zimmer sein könnte.
Die Hörner drängten sich jetzt in den Vordergrund, die Streicher tauchten ab, um dann umso triumphaler zurückzukehren. Die Musik wurde immer lauter. Ihr musste er folgen.
Der Saal, in den er nun trat, war grell erleuchtet. Ein großes, strahlend weißes Marmorrelief prangte an seiner Stirnwand, die hohe Decke war gewölbt und ausgemalt. Die Musik war jetzt so laut, dass Jonas seine eigenen Schritte nicht mehr hörte. Hörner, Streicher und Blech trieben einander an, auf einen nächsten Höhepunkt zu.
Jonas trat der Schweiß auf die Stirn. Es war nicht die Aufregung allein. Im angrenzenden Raum musste die Hitze stehen. Durch die halb offene Flügeltür drang ein Geruch wie aus einer Kirche.
Jonas zögerte. Wo Musik war, waren Musikanten, und wo Musikanten waren, war der Erbprinz nicht allein. Aber er wollte jetzt nicht aufgeben. Er war so weit gekommen.
Er tat den entscheidenden Schritt, erreichte die Tür, und die Musik pfiff ihm um die Ohren. Die Streicher tobten, die Hörner hielten dagegen, das Blech ging dazwischen.
Jonas drückte sich durch die Tür, nur um gleich zurückzuweichen. Der Anblick war atemberaubend. Jonas stand am Rande eines bestimmt hundert Meter langen Saals, den ein Meer aus Kerzen erleuchtete. Zahllose Lüster sahen so aus, als ob sie lichterloh brannten, und tauchten das ausgemalte Gewölbe in ein sepiabraunes Licht. Es schien, als tanzten dort oben die Dämonen. An den beiden Seiten des Saals wiederum reihte sich Kandelaber an Kandelaber. Dreißig, vierzig, fünfzig von ihnen standen stramm wie strahlende Soldaten in einer Reihe und die lange Bahn des Parketts zwischen ihnen glänzte wie ein breiter Fluss aus Gold.
Jonas brauchte eine ganze Weile, um Leopold zu bemerken. Ganz am Ende des Saals wiegte er sich hin und her, aus Jonas’ Perspektive nicht größer als ein Zinnsoldat. Und wieder vergingen lange Sekunden, bis Jonas begriff, was der Erbprinz da tat. Leopold tanzte, zur anschwellenden, abschwellenden, tobenden und dann plötzlich wieder säuselnden Musik! Ganz für sich, ganz allein, die Arme fest um den Uniformrock geschlungen. Alles war Licht und Klang, und Leopold wiegte sich oder wirbelte umher, lautlos glitten die Sohlen seiner Stiefel über das Parkett.
Jonas starrte ihn an, erst ungläubig und dann beinahe gerührt – so lange, bis ihm einfiel, dass er Leopold im denkbar ungünstigsten Augenblick störte.
Er musste sich verstecken, schoss es ihm durch den Kopf. Er musste sich verbergen und einen günstigeren Moment abwarten. Aber wo?
Hektisch sah er nach allen Seiten. Hier im Saal standen keine Möbel. War zwischen den Kandelabern Platz?
Und wer machte hier eigentlich Musik?
Leopold kam Pirouetten drehend näher, aber er hatte die Augen geschlossen. Traumverloren sah er aus, selbst seine kostbaren Locken schienen zu tanzen.
Bis zum nächsten Kandelaber waren es bloß drei, vier Schritte. Jonas huschte los, duckte sich, fand Platz, aber … Da war ein Vorhang!
Er überlegte nicht lang. Hinter dem Vorhang konnte nicht mehr als eine Nische sein. Genau gegenüber, einmal über den Fluss aus goldglänzendem Parkett hinweg, hing ja noch so ein Vorhang. Jonas drückte sich an dem schweren Stoff vorbei und kauerte sich augenblicklich hin. Leopold hatte ihn nicht bemerkt, Jonas war sich sicher.
Die Geigen allein bestimmten jetzt den Lauf der Melodie, eine Geige, so kam es Jonas vor, besonders. Er sah in das Halbdunkel zu seinen Füßen. Ihm blieb die Luft weg! Da war ein Schnallenschuh!
Blitzartig fuhr er herum und – entdeckte einen Trabanten. Selbstvergessen fiedelte er in Jonas’ Rücken, die Augen fest geschlossen, die Wange inbrünstig an die Geige geschmiegt. Der Trabant hatte Jonas nicht einmal bemerkt.
Vielleicht, dachte Jonas, sollte er auch gar nichts bemerken. Vielleicht war er nur zum Musizieren da. Bestimmt gab es hinter allen Kandelabern eine Nische und bestimmt stand hinter jedem Vorhang ein musizierender Trabant.
Jonas wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte, dann stand er lautlos auf, nicht mehr als eine Handbreit vom Trabanten entfernt. Der Gute fiedelte unverdrossen, obwohl ihm die Perücke dabei tief in die Stirn gerutscht war. Tapfer strich der Bogen über die Saiten. Einen Moment war Jonas versucht, dem armen Kerl auf die zitronengelbe Schulter
Weitere Kostenlose Bücher