Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
nicht, wo.
Oles feste Stimme holte ihn zurück. »Es gab nur einen Zeugen. Krempel hat es gesehen. Krempel – du weißt schon. Es war in der Ferne. Krempel sagt, Core sei einfach zusammengebrochen.«
»Einfach so?« Jonas’ Stimme war belegt. Dabei konnte er sich Core doch nicht einmal vorstellen.
»Krempel saß hoch in einem Baum«, sagte Ole. »Er brauchte eine Ewigkeit, bis er bei ihr war. Er sagt, es sei ein Mann bei ihr gewesen, als sie starb. Aber er konnte ihn nicht erkennen.«
Lunette räusperte sich lautstark. »Wie auch immer. Core war tot. Aber sie hinterließ … nun ja …« Er fuhr sich über das Kinn. »In der Ferne nennen sie es eine Prophezeiung .«
»Es ist eine Prophezeiung!«, sagte Ole bestimmt.
»Gut.« Lunette hatte das Kinn auf die Brust gelegt und las unsichtbare Flusen von seinem Rock. »Und diese Prophezeiung besagt, dass ein Junge, der im Augenblick ihres Todes geboren würde, uns erlösen würde – von der Kaiserin und vom Hirten.« Der Marquis machte eine Pause. »Das war vor zwölf Jahren.«
Still und sehr gerade saß Jonas da, während sich verschiedene Bilder seiner Erinnerung übereinanderlegten. Ole, wie er mit milchweißem Gesicht schlafend auf der Ottomane lag; Peregrin Aber, in der rumpelnden Kutsche, wie er Zwölf Jahre bist du jung, nicht wahr sagte; Irmingasts falsches Lächeln. Wie komme ich nur darauf, dass du zwölf bist? Zum ersten Mal machte der Zettel, den Ruben ihm noch bei Brand in die Hand gedrückt hatte, Sinn. Du bist nicht 12. Du bist 13! Und doch war Jonas verwirrt.
»Ole ist damals geboren«, sagte Lunette in die Stille hinein.
Ole zeigte keine Regung.
»Und andere Jungen natürlich auch.« Lunette seufzte. »Aber damals war der Hirte schon mächtig, Jonas, und er fand sie alle. Jeden Jungen, der in diesem Jahr geboren war, fand er, und nahm ihn zu sich. Alle wuchsen sie im Schwarzen Kloster auf, während es größer und größer wurde und Callamaar sich in die Flüsterstadt verwandelte – eine Stadt, in der sich niemand mehr offen zu sprechen traut. Die Herrschaft des Hirten lässt die Leute flüstern. Und wer sich nicht fügt, den holen die Jünger Faramunds. Und weißt du, wer die Jünger Faramunds sind, Jonas?«
Jonas starrte den Marquis an.
»Es sind die Jungen, die im Jahr von Cores Tod geboren wurden. Und sie sind tausendmal schlimmer als Trabanten. Keine willenlosen Trottel, sondern kleine, gefährliche Ungeheuer.«
In Jonas arbeitete es. Deshalb musste er dreizehn sein! Deshalb hatte Ruben ihn gewarnt. Aber wie passte das zusammen? Ruben hatte ihn vom Spielzimmer ferngehalten und ihn erst in den Schrank, nach Kanaria geschickt, als es keinen anderen Fluchtweg mehr gab. Und doch hatte er es so eilig gehabt, ihm diesen Zettel zuzustecken, dass er nicht einmal warten konnte, bis sie in Wunderlich waren. Warum? Warum war es auch in Wunderlich gefährlich, zwölf zu sein?
»Aber Ole …«, sagte Jonas schließlich.
»Aber ich.« Nach langer Zeit grinste Ole wieder, mit Ohren, Nase und Mund. »Genau. Ich bin zwölf und frei. Mich hat der Hirte nicht gefunden. Suleman Mond ist mein Onkel. Er hat es geschafft, mich in der Ferne zu verstecken.«
»Aber …«, fing Jonas wieder an. Wenn Ole so bedroht war, wie konnte es dann sein, dass er mutterseelenallein durch die Welt zog?
»Ja«, fiel der Marquis jetzt ein. »Ich weiß, was du denkst, Jonas. Und du hast recht. Ole ist leichtsinnig. Tollkühn. Und undankbar ist er auch.«
Ole verzog das Gesicht.
»Seiner Meinung nach«, fuhr Lunette fort, »müsste Suleman gegen den Hirten zu Felde ziehen. Ole will, dass er kämpft, statt sich in der Ferne zu verstecken. Und ginge es nach Ole, dann marschierten Suleman und seine Leute am besten auch gleich in Kanaria ein und stürzten die Kaiserin. Nur vergisst unser kleiner Erlöser dabei, dass in der Ferne nur noch ein Trüppchen Versprengter lebt. Alben, Fängge oder unser lieber Krempel, die sich vor Grimberts Trabanten und vor dem Hirten verstecken. Du hast doch den Steckbrief in deiner Tasche, Jonas. Krempel und seinesgleichen sind Gesetzlose, auch wenn die Gesetze ungerecht sind. Und Suleman Mond und Fiet Finger nützt es gar nichts, dass sie einmal zu den Sieben zählten. Cai hat uns verlassen, Jonas, und der Hirte ist mächtig. Sogar Grimbert hat Angst vor ihm. Er weiß, warum.«
»Grimbert versucht es wenigstens«, wandte Ole ein. »Er wird gegen den Hirten kämpfen. Wir haben ihn mit den Soldaten üben sehen. Gestern Abend.«
»Ach was!«
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