Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Kanaria! Verflucht!« Aufgeregt rieb er sich das Kinn. »Wir müssen runter von den Wegen. Sofort!«
»Ist …«, stotterte Jonas. »Und wenn er uns schon gesehen hat?«, keuchte er dann.
»Mit dem Auge da nicht«, knurrte Ole. »Hoffen wir mal, dass wir auf dem Weg hierher keins übersehen haben.«
Der Weg querfeldein war beschwerlich. Sie durchquerten einen dürren, vor Trockenheit knisternden Wald, setzten über ein dürftiges Rinnsal, das über steinigen Grund kroch, kletterten über immer nacktere Felsen, immer höher hinauf. Wenigstens brannte die Sonne nicht mehr, erschöpft hatte sie den Rückzug angetreten und senkte sich nun rot glühend über den Horizont. Später färbte sich der Himmel indigoblau, und nach und nach kühlte die Luft ein wenig ab, bis Jonas, wenn er beim Klettern Halt suchte, die aufgestaute Wärme der Felsen auffiel.
Der Mond war zurückgekehrt, ein mattsilberner Kreis, zu drei Vierteln voll. Jonas fürchtete die hereinbrechende Dunkelheit. Den ganzen Weg über hatte er Steine und Bäume nach den Augen des Hirten abgesucht. Sogar zu den aufgehenden Sternen sah er jetzt misstrauisch hinauf. Wie Himmelsspione kamen sie ihm vor.
Nach Luft ringend erreichten sie schließlich ein Felsplateau, eine weite, mit steinernen Brocken übersäte Fläche aus schwarzen Schatten und fließendem Grau.
»Zieh die Schuhe aus!« Auf einmal flüsterte Ole.
Jonas fragte nicht nach Gründen. Er sparte sich den Atem.
Auf Socken huschten sie über den warmen Stein bis zum Rand des Felsplateaus. Erst als sie bäuchlings dalagen, die Hände fest um die Felsenkante gekrallt, fing Ole wieder zu flüstern an. »Schau! Da ist der Steinbruch.«
Jonas war mulmig zumute. Unmittelbar vor seiner Nase brach der Fels steil in eine unergründliche Finsternis ab. Ole hatte nie zuvor einen Steinbruch erwähnt.
Starr vor Anspannung sah Jonas hinaus ins tiefe Blau der Dunkelheit. Weit vor ihnen ragte eine gewaltige, nackte Felswand auf. Vor ihr erstreckte sich ein Geröllfeld, auf das große, dunkle Felsquader wie Spielsteine verteilt waren. Ziemlich in der Mitte dieses Felds erhob sich ein hölzerner Turm. Jonas erkannte seine Verstrebungen und das kleine, überdachte Häuschen an seiner Spitze.
»Der Fels ist schwarz«, flüsterte Ole. »Hier brechen sie die Steine für das Kloster.«
»Und der Turm?«
»Ein Wachturm. Faramunds Jünger.« Ole legte eine Hand auf Jonas’ Arm. »Keine Sorge. Sie können uns nicht sehen.«
Jonas atmete aus. Weit und breit rührte sich nichts und doch war dort unten im Steinbruch Leben. Er konnte es spüren. Faramunds Jünger oder … er wusste nicht, was. »Warum sind wir hergekommen?«, flüsterte er.
»Später.« Ole robbte langsam rückwärts. »Lass uns erst verschwinden.«
Vorsichtig zogen sie sich zurück, viel weiter, als Jonas zunächst angenommen hatte. Sie ließen das Plateau hinter sich und stiegen im noch schwachen Mondlicht ein ganzes Stück weit tiefer, bis sie ein Waldstück erreichten. Die Hitze war auf einmal wieder drückend, feuchter als den ganzen Tag. Grillen zirpten und Jonas’ Schritte raschelten. Unter den Bäumen war die Nacht nicht mehr blau, sondern schwarz.
Nach ein paar unsicheren Schritten fasste Ole Jonas’ Arm. »Hier«, sagte er leise und schnallte seinen Rucksack ab. Jonas sah kaum mehr als seine Umrisse.
Sie hockten sich auf den Waldboden. Die Grillen mussten überall sein. Sie tobten.
»Der Steinbruch ist ein Straflager«, sagte Ole schließlich. »Hier bringt Faramund die Gefangenen aus der Flüsterstadt her.«
Jonas glaubte zu verstehen. »Du meinst, sie bringen Ruben hierher?« War er etwa schon da? Irgendwo da zwischen den Felsen?
»Es könnte sein.« Ole raschelte.
»Und wie finden wir das heraus?«
»Warte ab.« Jonas sah, wie Ole die Wasserflasche an den Mund setzte, und hörte ihn schlucken. »Meinst du, dass du schlafen kannst?«, fragte Ole, als er fertig war.
»Hier?« Jonas fiel aus allen Wolken. »Jetzt?«
»Es macht die Sache einfacher.« Ole bettete seinen Mantel zurecht und legte sich hin. »Komm! Lass es uns wenigstens versuchen.«
Jonas saß still da und horchte so lange auf die Grillen, bis auch die anderen Geräusche des Waldes ganz nah kamen. Das leise Rascheln der Blätter in den Wipfeln, das immer unerklärliche Knacken der Zweige. Nach einer Weile schien Ole zu schlafen, wenigstens rührte er sich nicht mehr, und seufzend schob sich Jonas die Joppe zurecht. Er würde nicht schlafen können, dachte er, wie auch,
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