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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilian Faschinger
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sechzigprozentig. Alle hatten Schnapsgläser vor sich stehen und gerötete Wangen, die Männer, einschließlich des Pfarrers, zusätzlich einen glasigen Blick.
    Meine Großmutter stand auf und rückte ihre leicht verrutschte blonde Perücke mit einem energischen Handgriff zurecht.
    »Man hat dich gesehen«, sagte sie.
    Ich schaute von einem zum anderen. Die Augenpaare blickten anklagend.
    »Hast du uns nichts zu sagen?«, fragte Tante Beate.
    »Ich wüsste nicht –«, setzte ich an.
    »Man hat dich gesehen, Sissi«, wiederholte meine Großmutter, die Hexe, um etliche Dezibel lauter. »Bei unserem Doktor König. Auf seiner Wiese. Barfuß und im Nachthemd.«
    »Am Tag des Herrn«, sagte Hochwürden Wojcik und griff sich mit der schlecht vernarbten knochigen Rechten müde an die Stelle, unter der sich sein infarktgeschwächtes Herz befinden musste. »Zweiter Sonntag vor Michaelis. So kurz vor dem Erntedankfest.« Seine Haare waren noch nicht ganz nachgewachsen, grauer Flaum bedeckte seinen Kopf, was ihn wie ein Raubvogeljunges aussehen ließ. Er war schlechter rasiert und gelber im Gesicht denn je.
    »Die Dirnböck ist zufällig am Haus vorbeigekommen und hat uns alles berichtet«, sagte Onkel Hannes und blinzelte. »Wahrheitsgemäß. Eine achtbare Witwe, die Dirnböck.«
    »Und ein vertrauenswürdiges Mitglied unserer Gemeinde«, fügte Hochwürden Wojcik hinzu. »Ihr obliegt seit Jahren die Instandhaltung der pfarreigenen Bildstöcke, eine Aufgabe, die sie in vorbildlicher Weise erfüllt. Ehrenamtlich.« Der Alkoholgenuss verstärkte zwar seinen polnischen Akzent, schien aber seine sonstige Kompetenz in der Fremdsprache eher zu verbessern.
    »Würdest du uns freundlicherweise mitteilen, was genau du in diesem peinlich kurzen Nachthemd bei unserem Doktor König zu suchen hattest?«, fragte Tante Dagmar. Sie sprach langsam.
    »Ich –«, begann ich.
    »Ich bitte dich, Dagmar, was sie gesucht und offenbar auch gefunden hat, ist doch sonnenklar«, unterbrach mich Tante Beate in leicht gereiztem Ton. »Der Gesichtsausdruck sagt alles.«
    »Es muss die Großstadt sein, die das Kind derartig verändert hat«, vermutete Onkel Hannes. »Wien ist für seine losen Sitten bekannt. Ein gefährlicher Boden für rechtschaffene Menschen aus der Provinz.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie hätte bei uns bleiben sollen.«
    Mein Großvater ließ seinen runden Schädel weit nach hinten sinken und schnarchte kurz auf.
    »Er schläft schon wieder«, sagte meine Großmutter. »Er schläft andauernd. Es ist ein Jammer.«
    »Ich kenne Stefan seit Jahrzehnten, das wisst ihr doch«, sagte ich. »Wir waren sehr gut befreundet, Regina, er und ich.«
    »Eben«, sagte meine Großmutter. »Eine innige Kameradschaft zwischen drei jungen Leuten. So etwas hält man in Ehren.«
    Der Großvater wachte auf und begann fröhlich zu singen: Schwarzbraun ist die Haselnuss, / Schwarzbraun bin auch ich, ja ich …
    Die Großmutter unterbrach ihn barsch.
    »Halt den Mund, Ägyd! Schlaf weiter!«
    Er sackte in sich zusammen. Sie wandte sich wieder an mich.
    »Wo war ich?«, sagte sie. »Ach ja. Unschuldig und innig. Eine solche Freundschaft behält man in teurer Erinnerung, noch dazu, wo sich doch später diese furchtbaren Ereignisse abgespielt haben. Du hast Reginas Andenken beschmutzt, traurig, aber wahr. Alles hat seine Grenzen, Sissi. Aber Grenzen hast du nie respektiert, schon gar nicht die des Anstands. In diesem Punkt bist du deiner Mutter ähnlich, das muss gesagt werden.«
    »Genau«, warf Onkel Rudolf ein und rülpste, »es ist das schlechte südamerikanische Blut. Das Mädchen ist nur zum Teil verantwortlich.«
    »Aus der Art geschlagen, so ist es und nicht anders«, sagte meine Großmutter-Hexe und skandierte die Wörter »Art«, »ist« und »anders« durch Schläge mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
    »Exakt«, sagte Onkel Rudolf und zog seinen Kopf eingeschüchtert zurück. »Aus der Art geschlagen.«
    »Und meiner Carmen blieb der Weg in diese Welt verwehrt. Das ist schmerzlich«, sagte Tante Dagmar. Ihre Aussprache war undeutlich.
    »Aber ich habe doch –«, hob ich an.
    »Schmerzlich und ungerecht«, nuschelte die Tante weiter. »Umgarnt diesen reizenden Menschen und hält ihn ab von seiner aufopfernden Tätigkeit.« Sie stand schwankend auf und erhob den rechten Zeigefinger. »Zweiter Brief des Johannes: Denn viele Verführer sind in die Welt ausgegangen …«
    »Sei still, Dagmar, du bist ja betrunken«, sagte meine

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