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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilian Faschinger
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des Satzes und meiner Geste. Die Situation erschien mir befremdlich, so, als stünde ich neben der Szene. Wie eine Dritte. Wie Regina zum Beispiel.
    Er nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich. Ich hatte ein Empfinden, als fülle seine Zunge meine Mundhöhle vollkommen aus. Mein Körper reagierte augenblicklich auf die Stimulation.
    Ich wachte auf, weil die Sonne in mein Gesicht schien. Mir war nicht gleich klar, wo ich mich befand. Links und rechts schräge Holzwände, dunkle Dachsparren, spitz nach oben zulaufend. Ich hob den Kopf. Ein großer länglicher Raum, in dem es nach altem Holz roch. Das Licht fiel durch ein Fenster über dem Bett, in dem ich lag. Ich hatte nichts an. Neben mir ein zerknülltes hellgraues Kopfkissen, auf der Marmorplatte eines Nachtkästchens ein halbvolles Glas Rotwein, ein Digitalwecker. Zehn nach zehn. Ein schwarzer Scherenschnitt in einem Rahmen. Ein vertrautes Profil. Regina. Ich setzte mich auf und stieß dabei mit dem Kopf gegen einen Balken. Ich lag in Stefans Bett, dem vormaligen Ehebett des vormaligen ehelichen Schlafzimmers im ausgebauten Dachboden des Winzerhauses. Abends zuvor hatte ich den Raum kaum wahrgenommen, wir hatten viel getrunken und waren im Dunkeln die Treppe hinaufgestiegen. Stefan hatte mich vor sich hergeschoben, seine Hände auf meinen Hüften.
    Ich stieg aus dem Bett und griff nach einem Kleidungsstück, das davor auf dem Boden lag. Ein hellblaues Männerhemd. Ich streifte es über, knöpfte es zu, schwankend. Mir war schwindlig und leicht übel, und ich hatte das vage Gefühl, einen Verrat begangen zu haben. Weshalb? Regina war seit zwei Jahren abgängig und höchstwahrscheinlich tot.
    Stefan war weder in der Küche noch im großen Zimmer im Erdgeschoß. Während ich barfuß über die Steinplatten im Flur ging, läutete das Mobiltelefon in meiner Handtasche, die auf dem Garderobenständer hing. Ich nahm den Anruf entgegen und lehnte mich an den Rahmen der offenen Eingangstür. Der alte Freund stand gebückt unter dem Ahorn, sammelte Zweige und kleine Äste auf, die der Sturm in der Nacht vom Baum gebrochen hatte, und legte sie auf andere Äste und Zweige, die er zu einem kleinen Stoß aufschichtete. Er bemerkte mich nicht gleich.
    »Guten Morgen«, sagte Emma. »Ich habe schon einmal angerufen. Wie hast du geschlafen?«
    »Ausgezeichnet«, sagte ich und musste gähnen.
    »Es ist lächerlich, aber in der Nacht habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Die Mühle liegt so einsam. Und dieser Verrückte mit dem umgedrehten Kreuz, ganz in deiner Nähe …«
    Ich dachte an den von innen erleuchteten Kürbis auf dem Hackstock.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Florian ist völlig harmlos.«
    »Wo bist du jetzt?«, fragte Emma.
    »Na, in der Mühle natürlich. Ich koche gerade Kaffee.«
    Stefan richtete sich auf und dehnte und streckte sich.
    »Dann bin ich beruhigt«, sagte Emma. »Ich muss los, ich arbeite heute. Bis morgen Abend.«
    Nun hatte er mich gesehen. Ich lächelte und winkte ihm zu. Die Mühelosigkeit, mit der ich gelogen hatte, hob meine Stimmung.
    »Ja, bis morgen«, sagte ich. »Ich freue mich auf dich.« Dann beendete ich das Gespräch.
    »Ausgeruht, Prinzessin?«, rief Stefan mir zu.
    Ich trat in die Wiese vor dem Haus und ging ihm entgegen. Das Gras war angenehm kühl und nass. In diesem Augenblick fuhr ein Auto auf der Straße vorüber, und die Fahrerin hupte ein paarmal und streckte den Kopf aus dem Fenster. Es war die Frau, die Emma und mir den Weg zum Winzerhaus gewiesen hatte, die grauhaarige Frau mit den Nike-Laufschuhen und dem scharfen Blick.
    »Schönen guten Morgen, Herr Doktor König!«, rief sie im Vorbeifahren. »Ein solcher Sturm! Er hat meinen Gartenzaun umgerissen, stellen Sie sich das vor! Eine Katastrophe!«
    Am frühen Abend fuhr ich zurück nach Wien. Vorher stattete ich meinen Großeltern noch einen kurzen Besuch ab. Als ich in die Stube trat, blickten mir sechs Augenpaare entgegen. Das siebente, das des Großvaters, und das achte, das des hölzernen Christus an dem kleinen, mit einem vertrockneten Palmkätzchenstrauß geschmückten Kreuz im sogenannten Herrgottswinkel in der Ecke, konnte man nicht mitzählen, denn diese vier Augen waren geschlossen. Außer meinen Großeltern saßen noch Onkel Rudolf und Onkel Hannes mit ihren Ehefrauen sowie Hochwürden Wojcik um den Tisch, in dessen Zentrum eine Zweiliterflasche ohne Etikett stand, zu einem Drittel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Hausbrand,

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