Die Unzertrennlichen
wohin?«
»Ich weiß es nicht mehr. Sie blieb ein paar Tage, nicht wahr, Kleiner?«
»Ja, zwei, drei Tage«, sagte Dante Gabriele und hob mehrmals rasch die Augenbrauen. »Und Nächte.«
»Und Nächte! Genau!« Salvatore schüttelte den Kopf. »Eine wilde Sache. Am Ende war ich total erschöpft. In der letzten Nacht bin ich irgendwann eingeschlafen. Als ich aufwachte, war sie nicht mehr da. – Wollen Sie noch einen Grappa?« Er wartete meine Antwort nicht ab, schnippte mit den Fingern und rief: »Noch drei Grappa, Antonella!«
»Ich erinnere mich noch«, sagte Dante Gabriele. »Sie hat angerufen. Als es hell wurde, hat sie jemanden angerufen. Keine Ahnung, was sie gesagt hat, sie hat Deutsch gesprochen. Ganz schön laut. Sie war wütend. Wir waren alle ziemlich erledigt. Ich hab Kaffee gekocht, und sie hat mich gebeten, sie zum nächsten Taxistand zu begleiten. Das war’s dann. Ich hab sie nie mehr gesehen. Schade eigentlich. Geile Frau, die Deutsche.«
»Österreicherin«, sagte ich.
»Ist doch völlig egal«, sagte Salvatore. »Hauptsache, wir haben Spaß gehabt. Hätten Sie nicht auch Lust, sich ein bisschen zu amüsieren, Signorina?«
Auf der Rückfahrt mit der Fähre saß ich unter Deck, meinen dünnen Mantel eng um mich gezogen, die Arme überkreuzt und die Hände in die Ärmel gesteckt, und schaute hinaus auf das stürmische Meer. Weiße Schaumkronen schaukelten auf den Wellen. Es war kalt, feucht, zugig. Ich fragte mich, wie weit man dem Bericht der beiden jungen Männer Glauben schenken konnte. Sie mochten mit der Camorra in Verbindung stehen, aber sie hatten ganz unbefangen erzählt und nicht den Eindruck gemacht, dass sie logen. Wenn sie die Wahrheit gesagt hatten, dann war Regina an jenem Frühlingstag vor zwei Jahren nicht ertrunken. Wen hatte sie von der Wohnung in Neapel aus angerufen? Stefan? Es lag nahe. Oder jemand anderen in Österreich? Was war geschehen? Hatten sie und Stefan sich auf dem Ausflug nach Vivara gestritten? Nach den Passagen aus Reginas Journalen zu urteilen, die ich gelesen hatte, war es ohne weiteres möglich, dass sie sich auf Sex mit ein paar fremden jungen Männern eingelassen hatte, Stefan zum Trotz. Um ihn vor den Kopf zu stoßen. Oder einfach, weil sich die Gelegenheit geboten und sie Lust gehabt hatte.
Wohin hatte sie sich danach vom Taxi bringen lassen? Zum Hafen? War sie wieder nach Procida gefahren? Oder zum Bahnhof – um den nächsten Zug zurück nach Österreich zu nehmen? Es gab viele Möglichkeiten. Hatte sie beschlossen, nach dem Scheitern ihrer Ehe ein neues Leben ohne Stefan zu beginnen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie bereit war, ihren Beruf, ihre Kontakte, ihre ganze komfortable Existenz aufzugeben. Hatte sie einen ihrer Liebhaber aufgesucht, um bei ihm zu bleiben? Im Ausland vielleicht?
Bisher hatte ich mich auf einzelne Ausschnitte aus Reginas Tagebüchern konzentriert, hatte nicht zusammenhängend gelesen, wusste nicht, wann ihre Aufzeichnungen endeten. Vielleicht hatte sie die letzten Eintragungen in Procida vorgenommen? Das ließ sich herausfinden.
Regina war nicht ertrunken.
Und Stefan – hatte er mich belogen? Aus welchem Grund? Wenn er es gewesen war, den sie angerufen hatte, dann wusste er, dass sie lebte, dass sie nicht im Wasser den Tod gefunden hatte. Weshalb hielt er dann weiterhin an der Begründung fest, die die italienische Polizei offiziell für Reginas Verschwinden angegeben hatte? Weil er die Ungewissheit nicht ertrug?
Plötzlich wurde mir übel. Sicher war es der hohe Seegang, die schwankende, schlingernde Bewegung der Fähre. Ich stand auf, ging rasch zu einer der Toiletten und erbrach mich.
In meinem Zimmer in der Pension setzte ich mich an den Laptop und steckte den USB -Stick an. Reginas Aufzeichnungen endeten im Jänner 2001. Zu diesem Zeitpunkt war die Ehe meiner ehemaligen Freunde längst zerrüttet, doch sie wahrten weiterhin den Schein:
»Inzwischen bin ich vorsichtiger geworden, hüte mich, Seitensprünge zuzugeben. In letzter Zeit spricht Stefan davon, eine Scheidungsklage einzubringen, er versucht mich auf diese Weise unter Druck zu setzen, mich gefügig zu machen. Es ist sein letzter Trumpf. Er weiß, daß ich finanzielle Einbußen nur ungern in Kauf nehmen und nicht ohne weiteres auf das angenehme Leben verzichten würde, das er mir ermöglicht. Daß ich die soziale Fassade, die wir aufgebaut haben, aufrechterhalten möchte. Sie ist sehr zweckmäßig: die sensible, begabte, sympathische Sängerin, dazu
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