Die Unzertrennlichen
Abbondanza ist?«, fragte ich. »Sie kann nicht weit sein.«
Die Frauen sahen mich erstaunt an.
»Sie sind hier fremd, das merkt man gleich«, sagte die Kleinere. »Wir sind hier auf der Via dell’ Abbondanza!«
Die Größere zog eine plumpe Hand unter ihrem Tuch hervor und beschrieb damit eine umfassende, halbkreisförmige Geste. »Sehen Sie sich doch um – abbondanza! Was für ein treffendes Wort für dieses Stadtviertel, nicht wahr?«
Sie lachte, laut und herzhaft, sodass das Fleisch ihres fülligen Oberkörpers auf und ab hüpfte. Dann kramte sie in ihrer Einkaufstasche, lange und umständlich, fand schließlich ihre Geldbörse, öffnete sie, entnahm ihr ein Foto und zeigte es mir. Es war ein abgegriffenes, unscharfes, leicht braunstichiges Schwarzweißfoto, auf dem vor einem Hintergrund aus Olivenbäumen inmitten von Schafen und Ziegen ein dünnes Mädchen mit einem langen Stab in der Hand stand.
»Das bin ich, mit meiner Herde«, sagte sie und klopfte mit dem Zeigefinger auf die kleine, helle Figur. »So hat es früher hier ausgesehen, eine ländliche Gegend. Die reine Idylle. Es gab einfache Wirtshäuser, Bauernhöfe, Ziegen, Schafe, Olivenhaine, man konnte den Vesuv sehen, auch das Meer und die Inseln. Dann, nach dem Erdbeben von 1980, kam der sogenannte soziale Wohnbau. Sozial!«
Wieder lachten die beiden.
»Die obdachlos gewordenen Familien sind hierhergezogen«, setzte die kleinere Frau fort, »die kinderreichsten, ärmsten. In diesem Ghetto leben heute siebzigtausend Menschen, die meisten von den Drogen. Es gibt kaum Geschäfte, Brot kaufen ist ein Problem! Dafür haben sie uns das Gefängnis hergebaut und lassen die Zigeuner hier hausen, unter der Autobahntrasse – wir kriegen alles, was niemand will. Sie haben uns abgeschrieben.« Die Frau sah mich an und nickte. »Jawohl, abgeschrieben. Wir sind die Letzten.«
»Der Abschaum«, warf die Größere ein.
»Genau, der Abschaum«, wiederholte die Kleinere. »Die Verdammten von Neapel.« Sie machte eine Pause und musterte mich erneut von oben bis unten. »Wo wollen Sie denn hin, Signorina?«
»Kennen Sie vielleicht –«
Die größere Frau unterbrach mich.
»Nicht, dass Sie Angst haben müssten«, lispelte sie. »Auf der Straße überfällt sie keiner, die Leute haben Geld, das Geschäft mit den Drogen rentiert sich. Zumindest verdient man sich ein bisschen dazu. So wie meine Nachbarin hier.« Sie stieß die Kleinere in die Rippen. »Nicht wahr, Valentina? Für die Klavierstunden deiner Tochter.«
Valentina grinste und zuckte die Achseln.
»Was soll man machen?«, sagte sie. »Die Familie muss leben.«
»Aber wenn Sie einen der Wohnblocks betreten wollen«, fuhr die andere fort, »dann wird es schwierig. Wer ein und aus geht, wird kontrolliert. Sie halten einen an, stellen Fragen: Wer bist du? Was willst du hier? Zu wem möchtest du?« Sie blickte ihre Bekannte an. »Wenn wir in unser Haus wollen, müssen wir uns in eine Schlange von Süchtigen einreihen. Sage ich die Wahrheit oder nicht, Valentina?«
Valentina nickte.
»Die reine Wahrheit«, bestätigte sie. »Man braucht nicht einmal die Wohnung zu verlassen, um die Ware loszuwerden.«
»Ja, so weit ist es gekommen, Signorina«, sagte die größere Frau und seufzte.
Ein elegantes schwarzes Sportcoupé mit getönten Scheiben rollte langsam und geräuschlos an uns vorüber. Valentina packte ihre Bekannte am Arm.
»Hast du gesehen, Federica? Das war Lorenzo. Mit Aldo, dem Sohn von Concetta. Der ist doch vor kurzem noch im Gefängnis gesessen, oder nicht?« Sie wandte sich an mich. »Das sind Dealer. Die haben sich schon hochgearbeitet, haben schon ein paar andere ausgeschaltet. Aber sie sind immer noch Handlanger.«
»Genau. Fußvolk.« Federica nickte. »Die Bosse lassen sich hier nicht blicken, sie wohnen in Posilippo, in Capri, Spanien, Amerika, was weiß ich …«
Mittlerweile war mir ziemlich kalt.
»Gibt es hier in der Nähe eine Bar degli amici?«, fragte ich.
»Ja, gleich da vorne«, sagte Valentina. »Es ist die einzige Bar weit und breit. Vor dem Haus sitzt einer auf der Mülltonne, mit einer Spritze, und drückt sich gerade was rein. Sehen Sie ihn? Dort ist es.«
»Vielen Dank«, sagte ich und ging in die Richtung, die sie mir gewiesen hatte. Schräg rechts über mir, nicht sehr hoch, kreiste ein Hubschrauber. Der Typ mit der Spritze bemerkte mich nicht.
»Meine Großmutter? Das gibt’s ja nicht!«, sagte der Enkel der Signora Ciaccoppoli, schlug sich auf die
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