Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
düstere, altmodische Romantik.
Einer dieser Geschichten gleich tauchte Aghiresu dann plötzlich aus der Dämmerung auf. Das kleine Dorf schälte sich aus dem es umgebenden dichten Wald heraus, unscheinbar und beengt, mit kleinen Holzhäusern, die ihre spitzen Dächer schräg und verwittert den grauen Wolken entgegenreckten. Matte Lichter schimmerten wie wachsame Augen hinter den schmalen Fenstern. Nur vereinzelt sah man Einwohner auf den schlammigen Straßen. Eine Brücke, die einen durch das Dorf fließenden Bach überspannte, führte uns direkt zum Dorfplatz vor der kleinen Kirche. Die Pferde kamen mit einem lauten Schnauben zum Stehen, und der Kutscher sprang von seinem Bock. Wir hatten direkt vor dem Wirtshaus »Goldene Krone« Halt gemacht, dessen schwere Fensterläden und Wände den Eindruck massiver Standfestigkeit vermittelten.
»Wir sind da«, stellte Doktor Pickwick fest. Dann stieg er unvermittelt aus, ohne eine Antwort unsererseits abzuwarten, und wechselte einige Worte mit dem Kutscher in seiner Muttersprache.
Tom blinzelte müde, und Tibor hielt mir galant die Tür auf, als ich aus der Kutsche stieg und meine Stiefel augenblicklich im aufgeweichten Boden versanken. Tom und Tibor nahmen vom Kutscher die wenigen Gepäckstücke entgegen, während der Doktor zielstrebig zum Wirtshaus stapfte und energisch gegen die Tür schlug. Tibor reichte mir meine Tasche und schenkte mir dabei ein unglückliches Lächeln. Er erweckte nicht gerade den Eindruck, mit der Entscheidung, uns hierher zu begleiten, zufrieden zu sein.
In der Tat wirkte Aghiresu alles andere als einladend auf uns. Der überdachte windschiefe Brunnen im Zentrum des Dorfplatzes, die fernen Geräusche aus den Wäldern, der kalte Nieselregen und die vielen verschlossenen Fensterläden hießen Fremde nicht unbedingt willkommen. Die wenigen eilig vorbeihuschenden Menschen (Bauern mit zerfurchten, besorgten Gesichtern und von der harten Arbeit zeugender grober Kleidung) warfen uns verstohlene, beinahe furchtsame und misstrauische Blicke zu.
»Jeder hier scheint darum bemüht zu sein«, bemerkte Tom flüsternd, »schnellstens nach Hause zu kommen.«
Ich stimmte ihm wortlos zu.
Eine rundliche Frau mit rotem Gesicht und Kopftuch erschien hektisch im Türrahmen des Wirtshauses, und ein lauter Schwall rumänischen Sprachgutes traf den Doktor, der missbilligend nickte und, an uns gewandt, sagte: »Wir sollen uns beeilen einzutreten.«
Das aufgeregte Geplapper der Frau ließ nicht nach. Mit schnellen Schritten kam sie zur Kutsche gewatschelt und riss mir das Gepäck förmlich aus der Hand, sagte etwas mir Unverständliches und schleppte meine Tasche ins Wirtshaus.
»Sie hat Angst vor der Dunkelheit«, bemerkte Tibor, der neben mir stand und sich offenbar nicht recht erklären konnte, was hier geschah. Von der anderen Seite des Dorfplatzes hörten wir ein lautes Krachen, als weitere Fensterläden zugeschlagen wurden.
»Was geht hier nur vor?«, fragte ich Tom.
Bevor er mir seine Mutmaßung mitteilen konnte, kehrte die rundliche Frau zurück. Sie lächelte besorgt und ergriff meine Hand. Dann sagte sie etwas, aus dem ich mehrmals die Worte »Vrolok« und »Vlkoslak« heraushörte, und bekreuzigte sich ängstlich. Sie zerrte mich beharrlich in Richtung Wirtshaus und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Wälder, wobei sie laut vernehmlich das Wort »Stregoica« wiederholte. Ich beschloss, Tibor nach der Bedeutung dieser Worte zu fragen, sobald wir einen stillen Moment unser Eigen würden nennen können. Vorerst jedoch blieb mir nichts anderes übrig, als mich geduldig der Wirtsfrau auszuliefern, die mich energisch ins Innere des Hauses zog. Sie stellte sich mir als Frau Vályi vor, indem sie sich die Handfläche auf die Brust legte und »Vályi Judith« sagte, worauf ich mit einem zögerlichen »Holland Elizabeth vagyok« antwortete, welches sie erfreut zur Kenntnis nahm.
Die Wirtsstube war klein und von einer gemütlichen Wärme durchdrungen, die ihren Ursprung in einem sanft knisternden Kaminfeuer am Ende des Raumes hatte. Von den dicken hölzernen Balken, welche die niedrige Decke trugen, baumelten kleine Sträuße getrockneter Blumen herab und hier und da eine Laterne, die den Raum in weiches Licht tauchte. In der Mitte des Raumes stand, gesäumt von kleinen Schemeln, ein einziger massiver Holztisch, an dem zwei hagere Männer sowie eine junge Frau beim Abendessen versammelt saßen und mich überrascht musterten.
»Holland Elizabeth
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