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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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tatenlos in mir getragen zu haben.
    »Man sollte sich seiner Tränen niemals schämen«, hörte ich Tibor neben mir sagen und öffnete die Augen.
    Ich starrte ihn verwirrt an.
    Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und reichte es mir.
    Ich nahm es dankend entgegen.
    Vornehme Passanten warfen mir tadelnde Blicke zu, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie mein Verhalten als gesellschaftlich vollkommen unziemlich einstuften.
    »Ein seltsamer Tag ist das«, murmelte ich und erlangte langsam die Fassung zurück. Ein kaum merkliches Schwindelgefühl ließ die Konturen der Welt um mich herum kurz verschwimmen.
    In jenem Moment hätte ich es genossen, von Tibor in den Arm genommen zu werden, doch befürchtete ich, dass diese Geste für ihn von größerer Bedeutung sein würde, als sie es für mich je sein konnte.
    Nach einigen Sekunden befangenen und verlegenen Schweigens drang aus der Ferne Musik zu uns, die uns beiden die Möglichkeit eröffnete, elegant der Situation zu entrinnen. Es waren Geigen, die einen beschwingten Tanz zum Besten gaben, typisch ungarische Rhythmen, zu denen, wie wir später, am Ort der Veranstaltung angekommen, sahen, Paare in traditionellen Kostümen wild auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Schlösschen umherwirbelten.
    Von dem schattigen Platz, den wir ergattert hatten, beobachteten wir die Tänzer. Tibor erklärte mir die Geschichten, die dort vor meinen Augen getanzt wurden. Einer der Tänze erzählte von einem jungen Mädchen, das unglücklich verliebt war in einen Bauern aus dem Nachbardorf, der jedoch während einer Bärenjagd sein Leben ließ, worauf das junge Mädchen, eine Schönheit mit feuerrotem Kleid und langen Zöpfen, sich das Leben nahm und sterbend zu Boden sank. Die Musik wurde langsam, fast schleppend klagten die Geigen, während das Mädchen mit verzerrtem Gesicht immer engere Kreise um den Leichnam ihres Geliebten zog, bis sie sich symbolisch mit einem giftigen Trank die Lippen benetzte und langsam niedersank, ihren sterbenden Körper reglos auf den Leichnam des Liebsten bettete, und die Musik mit einem anklagenden Ächzen der Geigen verstummte.
    Während die Zuschauer begeistert applaudierten, konnte ich den Blick nicht von dem jungen Mädchen mit den Zöpfen lösen, das noch immer in theatralischer Reglosigkeit dalag. In meinen Träumen höre ich noch manchmal jene Melodie und lasse mich fallen, um nach dem Aufwachen festzustellen, dass ich im Schlaf geweint habe.
    Dann endlich erreichte uns eine Neuigkeit, die in Form von Professor Molnár in unser Leben gepoltert kam und die uns die Bekanntschaft eines englischen Arztes machen ließ; eine Bekanntschaft, die all die weiteren Ereignisse in Gang setzen sollte, von denen ich mir heute so oft wünsche, sie hätten niemals stattgefunden. Doch damals war die Neugierde unsere treibende Kraft, und keiner von uns, weder Tom oder Tibor, noch Professor Molnár oder ich selbst ahnten, dass die Suche nach den Geheimnissen aus alter Zeit unser aller Verderben sein würde. Nicht einmal Doktor Pickwick konnte die Ausmaße dessen, was zu entdecken uns bestimmt war, erahnen.
    Pilatus Pickwick, dem wir am Nachmittag des 9. September 1920 im Café Reitter vorgestellt wurden, war Doktor der Medizin und Chirurg am Erzsébet Kórház am Rande von Pest sowie Verfasser zahlreicher Abhandlungen über die moralischen Aspekte der neuen Wissenschaften, was ihn zu einem würdigen Mitglied des Schriftsteller- und Journalistenvereins Otthon machte, welchem seinerseits Professor Molnár angehörte. Auf Empfehlung des Letztgenannten begaben wir uns an jenem Nachmittag in das noble Café unter den Arkaden des Palais Drechsler, wo die intellektuelle Elite des Landes bei schwarzem Kaffee und Kuchen die warmen Sonnenstrahlen und den Blick auf das direkt gegenüber gelegene Opernhaus genoss und sich in heftigen Diskussionen erging, deren Themen von der fragwürdigen faschistischen Politik Mussolinis bishin zu den sozialwissenschaftlichen Thesen Max Webers reichten. Picassos Gemälde wurden ebenso einer Analyse unterzogen wie die neue Zwölftontechnik Prokofjews und Schostakowitschs. James Joyce und Marcel Proust wurden vergöttert, während sich bei den Tatsachenberichten von Sinclair oder Tretjakow die Meinungen teilten. Kultur, Medizin und Politik – die Diskussionen machten vor keinem Bereich des modernen Lebens Halt.
    In meiner Erinnerung sehe ich erneut den Doktor inmitten dieser eifrig argumentierenden Studenten und wohlhabenden Bürger an dem kleinen

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