Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Zeit, wurde wilder und urwüchsiger. Die Dörfer, die wir passierten, ließen noch Spuren des vergangenen Krieges erahnen. Armut und Elend kennzeichneten das Leben auf dem Land. Die Wälder schienen in dieser Gegend immer dichter und dunkler zu werden. Die tiefen Täler und gewaltigen Bergformationen tauchten die Welt in lange Schatten.
Vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir schließlich die Stadt Klausenburg, wo wir im Hotel Royale abstiegen. Der Doktor, der während der ganzen Reise pausenlos medizinische Bücher gewälzt und kaum ein Wort mit seinen Mitreisenden gewechselt hatte, hatte sich um die Reservierung von vier gut ausgestatteten Zimmern gekümmert. Herr Delbrück, der Maître d’ Hôtel, ein rundlicher Mann mit roter Nase, beschrieb uns mit der den Menschen dieser Gegend eigenen Hilfsbereitschaft den weiteren Weg zu dem kleinen Dorf, das wir suchten. Am Morgen des folgenden Tages brachen wir dann in aller Frühe nach Aghiresu auf, der Endstation unserer Reise, gelegen an einem Ausläufer der Ostkarpaten inmitten einer von dichten Wäldern umgebenen Bergformation, die bei den Einheimischen als
Isten Szek
(Gottes Sitz) bekannt war.
In Ermangelung eines Automobils (niemand in dieser Gegend hätte sich so vermögend nennen können, dass er sich auch nur im Entferntesten den Besitz eines Automobils hätte leisten können) mussten wir mit einer Reisekutsche samt Kutscher Vorlieb nehmen. In der aufdringlichen Enge des schaukligen Gefährts sitzend, überkam mich immer wieder eine bleierne Müdigkeit, deren beharrliches Auftreten ich auf die schlaflos verbrachte vergangene Nacht zurückführte. Mit weit geöffneten Augen hatte ich in dem nach gestärkten Laken riechenden Bett gelegen und die Decke angestarrt.
Es geschah mir alles etwas zu schnell. Unsere Zusage, den Doktor auf seiner Reise zu begleiten, konnte bestenfalls als spontan und unüberlegt beurteilt werden. Wir wussten nichts über diesen Doktor Pickwick. Die einzige Referenz, die er für sich in Anspruch nehmen konnte, war die Bekanntschaft mit Professor Molnár, was uns als ausreichend erschienen war, um ihm zu trauen. Der Doktor war wortkarg, exaltiert und nervös, was ich der bevorstehenden Ankunft in besagtem Dorf zuschrieb, und er zeigte das allzu typische Gebahren eines Gelehrten, der sich daran gewöhnt hatte, dass ihm die Menschen Respekt zollen und seine Meinung die für alle maßgebliche ist.
»Du magst ihn nicht«, hatte Tom bereits nach dem Treffen im Café Reitter richtig erkannt.
Mürrisch hatte ich entgegnet: »Ich muss ihn auch nicht mögen.« Womit die Sache vorerst für uns beide erledigt gewesen war.
Tatsache war jedoch, dass ich Tibor Vanko mochte. Während meiner nächtlichen Versuche, Schlaf zu finden, war sein Gesicht aus den Schatten an der Decke aufgetaucht, die vertrauensseligen dunklen Augen hatten mir zugezwinkert, und ich hatte mich gefragt, was es für Gefühle waren, die ich ihm gegenüber hegte. Ich wollte in ihm niemals mehr sehen als einen Freund. Dennoch gefiel mir der Gedanke, von ihm in den Arm genommen zu werden. Als ich Tibor jetzt in der Kutsche beobachtete, wie er dahindösend neben dem mürrisch in einem Notizbuch blätternden Doktor saß, wirkte er blass und müde, und ich ertappte mich bei der Vermutung, dass er in der Nacht womöglich von Gedanken ähnlicher Art heimgesucht worden war.
Tom döste neben mir, seinen Körper gegen meinen gelehnt. Ich selbst starrte aus dem kleinen Fenster nach draußen und beobachtete die vorbeifliegende Landschaft. Die Sonne glänzte matt über den Spitzen der großen Bäume. Die Farben der Wälder wirkten gedämpft im kalten Licht der bald hereinbrechenden Dämmerung. Ich entsann mich einer Geschichte, die Tom seiner kleinen Schwester zum Einschlafen erzählt hatte. Fast war es, als hörte ich noch den Regen, der gegen das Dach meines Zimmers im fernen Salisbury prasselte, vermischt mit der ruhigen Stimme meines Bruders, die von einem Mann berichtete, der inmitten eines Sturms Zuflucht auf einem edlen Landsitz sucht, dort die Bekanntschaft einer wunderschönen Frau macht und sich in sie verliebt. Die beiden verbringen die Nacht zusammen, doch als der Reisende am nächsten Morgen erwacht, findet er sich inmitten einer alten Ruine wieder. Später muss er dann von den Dorfbewohnern erfahren, dass die ehemalige Comtessa einst beschuldigt worden war, eine Hexe zu sein, worauf sie vom Pöbel mitsamt ihrem Landsitz den Flammen übergeben worden war.
Tom liebte diese
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