Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
der Ferne erklang erneut jenes lang gezogene Heulen, diesmal aus vielen Kehlen.
Dann sahen wir sie.
Tibor machte mich auf den Hirsch aufmerksam, der auf einer Lichtung, die wir gut überblicken konnten, stand und graste. Das stattliche Tier hob hin und wieder den Kopf, um vorsichtig Witterung aufzunehmen. Nur schemenhaft wurden wir der schattenhaften Kreaturen gewahr, die am Rand der Lichtung im Unterholz lauerten. Als der Angriff dann kam, überraschte er uns alle, und wir beobachteten fasziniert und erschrocken zugleich, wie mehrere der Kreaturen auf den Hirsch zusprangen, der panisch die Flucht antrat. Die Kreaturen liefen, wenngleich gebeugt, zweifelsohne auf zwei Beinen. Ihr dunkles Fell schimmerte im fahlen Licht des aufgehenden Mondes, und die spitzen Ohren gaben den Gestalten etwas bösartig Wölfisches. Es waren fünf Kreaturen, die mit der Jagd auf den Hirsch begannen, doch nach wenigen Augenblicken erkannten wir, dass sie den Hirsch nur auf eine weitere Gruppe zutrieben, die am anderen Ende der Lichtung auf die Beute wartete. Sobald das arme Tier in ihre Reichweite gekommen war, schlugen sie zu. Vier Kreaturen sprangen den Hirsch fast gleichzeitig an. Durch ihren jähen Ansturm wurde der Körper des Hirsches zur Seite geworfen und jede Gegenwehr im Keim erstickt. Die kurz darauf hinzukommenden Jäger warfen sich ebenso auf ihr hilfloses Opfer, sodass der verzweifelt zuckende Körper des Hirsches von den laut knurrenden Kreaturen vollends bedeckt wurde.
»Sehen Sie nur«, stellte der Doktor fasziniert fest. »Sie jagen im Rudel.«
Tibors Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Wie Wölfe«, murmelte er nur und sah mich mit großen Augen an.
Mittlerweile waren wir alle von den Pferden abgestiegen. Geduckt verbargen wir uns hinter den Büschen, die zu beiden Seiten des Pfades, auf dem wir gekommen waren, wild und dornenbewachsen wucherten. Die Brüder Csuha wechselten wachsame Blicke, spähten vorsichtig in die mondhelle Nacht und hielten die entsicherten Gewehre im Anschlag. György Tucsek blickte grimmig und ungeduldig zur Lichtung, weil er in den Gestalten die Entführer seines Jungen vermutete. Gemeinsam wurden wir Zeuge, wie die Kreaturen den Hirsch in Windeseile in Stücke rissen, wobei immer eine der Gestalten aufrecht dastand und schnuppernd zu wachen schien.
»Der Wind steht günstig«, flüsterte Pickwick mir zu.
Nach allem, was ich während meiner Kindheit aus den Geschichten Kiplings und Rider Haggards gelernt hatte, bedeutete die eisige Brise in meinem Gesicht Sicherheit.
»Sieh nur«, flüsterte Tom mir zu. »Sie haben aufgehört zu fressen.«
Ruckartig hoben sich die Köpfe der Kreaturen.
Nachdem sie ausgiebig in die umliegenden Wälder gespäht hatten, machten sie sich von dannen. Sie gingen aufrecht und trugen Brocken blutigen Fleisches mit sich.
»Wir folgen ihnen«, entschied der Doktor für uns alle.
Sein Gedankengang war unschwer nachzuvollziehen. Da die Vrolok Rudeljäger waren, lag die Vermutung nahe, dass irgendwo ihr Nachwuchs auf Nahrung wartete. Es musste demnach eine Art Lager geben, wo sich der Rest des Rudels aufhielt. Dorthin würden sie den erlegten Hirsch bringen, und dorthin gedachten wir ihnen zu folgen – ein Vorhaben, das sich als langwieriger und schwieriger erwies, als wir erwartet hatten. Allzeit mussten wir die Windrichtung überprüfen. Zudem war ein ausreichend großer Abstand zu den Vrolok zu wahren, wollten wir unentdeckt bleiben. Wir folgten allein den Spuren, die die Vrolok im Wald zurückließen, umgeknickten Zweigen und zertrampeltem Unterholz sowie hier und da einem Fußabdruck im Schlamm.
Wir gingen zu Fuß durch das Dickicht, die nervösen Pferde an den Halftern hinter uns herziehend. Dichter Nebel kam erneut auf, als wir uns bergauf bewegten. Von Zeit zu Zeit bestätigte uns ein Heulen, dass wir dem rechten Weg folgten. Schweigend setzen wir unseren Aufstieg fort, durchquerten dichten Tannenwald und erreichten schließlich eine steile Felsformation, die fast senkrecht vor uns in den Himmel ragte.
Béla Csuha, der unseren kleinen Suchtrupp anführte, gebot uns in Eile, Deckung zu suchen. Wir taten wie geheißen, und mit klopfendem Herzen bemerkte ich, verstohlen durch das Gestrüpp vor mir spähend, dass sich am Fuße des Felsens, kaum tausend Fuß von unserer Position entfernt, der Eingang zu einer Höhle befand.
Herr Vályi kehrte samt Sohn auf der Stelle um, um die Pferde an einen sicheren Ort zu bringen.
Ich erkannte eine Vielzahl von
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