Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Augenlider begannen stark zu zucken. Zudem verstärkte sich der Aussschlag auf der Haut.
»Was bedeutet das?«
»Ich habe etwas Derartiges noch nie gesehen«, gestand der Doktor.
Ein dünnes Rinnsal dunklen Blutes rann aus den Augenwinkeln des Mädchens über ihre Wangen. Pickwick reagierte auf der Stelle und blies die Kerze aus. Das Zucken der Lider wie auch die Blutung ließen rasch nach.
»Was, in aller Welt, ist das nur?« Er tastete die trockenen, brüchig wirkenden schmalen Lippen des Mädchens ab, um sie schließlich zu teilen und das faulige Zahnfleisch zu entblößen. Ein Ekel erregender Gestank trat aus, sobald der Mund der Kleinen geöffnet war. Die kleinen Zähne waren von einem braunen Belag befallen. »Können Sie mir zur Hand gehen?«, bat mich Pickwick und starrte fasziniert in die Mundhöhle.
Ich wartete auf meine Instruktionen.
»Halten Sie den Mund geöffnet«, sagte er und zeigte mir, wie ich zupacken musste, ohne mit den Fingern zwischen die Zähne zu geraten. Nach dem Tobsuchtsanfall der Kleinen waren wir beide mehr als vorsichtig geworden. Der Doktor untersuchte Zunge und Rachenraum des Mädchens. Ich kämpfte krampfhaft gegen den Drang, mich übergeben zu müssen, an.
Dann hatte der Doktor seine Untersuchung beendet.
»Ihr Blut wird die Antworten bringen, die wir benötigen«, versprach er zuversichtlich, trat vom Bett zurück und betrachtete den kleinen Körper zerstreut. Man konnte förmlich spüren, wie er nach Lösungen suchte. »Was ist die Ursache?«, murmelte er und ging um das Bett herum. Er kniete sich erneut neben die noch betäubte Katálin und zupfte den Ärmel ihres Nachthemdes hoch, begutachtete die Haut ihres Unterarms. »Schauen Sie«, forderte er mich auf und deutete auf das Handgelenk. Eine kleine Rötung war dort zu erkennen, dunkler als das sie umgebende Gewebe und von einem festen Schorf bedeckt.
»Sie behauptete, dass sie etwas gebissen habe«, erinnerte ich mich.
Pickwick winkte die Mutter zu sich und zeigte ihr die Stelle. »Mi az?«
»Egy Vrolok«, murmelte die Mutter ängstlich.
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Sie meint, ihre Tochter sei von einem Vrolok gebissen worden. Ergibt das Sinn?« Ich verstand diese Frage als einen Test.
»Die Bisse an den Pferden waren gänzlich anderer Natur«, antwortete ich und rief mir ihr Aussehen ins Gedächtnis zurück. »Sie waren weitaus größer. Die anderen Wunden sahen zerfetzt aus. Diese hier gleicht eher einem Insektenstich.«
Zum ersten Mal seit unserer Begegnung im Café Reitter sah ich den Doktor zufrieden lächeln. »Exakt meine Meinung«, stimmte er mir zu, rieb sich erschöpft die Augen und bedachte die besorgten Eltern zum Abschied mit einem Wortschwall, hinter dem ich gut gemeinte medizinische Ratschläge und unumgängliche Anweisungen vermutete.
Er packte seine Tasche und stiefelte hinaus in den Nebel, der sich mittlerweile noch dichter um die Häuser gelegt hatte.
Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen?
Wir wateten durch den Schlamm zum Dorfplatz zurück. Die frische kalte Luft tat nach dem langen Aufenthalt in dem nach der Krankheit stinkenden Haus der Familie Rogács unendlich gut. In langen Atemzügen ließ ich die eisige Kälte durch meinen Körper strömen und spürte das Leben in mein Bewusstsein zurückkehren.
»Eliza«, rief Tom und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Sein langer Mantel wehte im leicht aufkommenden Wind. Er wirkte außer Atem, als er mir verkündete, dass sich die Dörfler auf die Suche nach dem kleinen Jungen des Schmieds machen wollten. Dann erst registrierte er meinen Gesichtsausdruck und erkundigte sich nach dem Vorfall im Haus der Familie Rogács.
Doktor Pickwick, der flink zur Stelle war, berichtete Tom von dem kleinen Mädchen und dessen Bisswunde.
»Also haben wir es hier mit zwei vollkommen unterschiedlichen Ursachen zu tun«, schlussfolgerte Tom, während wir uns dem Menschenauflauf auf dem Dorfplatz näherten. Die Augen meines Bruders hatten diesen unternehmungslustigen Glanz, der sich bei ihm als Junge immer dann eingestellt hatte, wenn es knifflige Rätsel zu lösen galt oder er die langen Winterabende damit verbrachte, seinen beiden Lieblingscharakteren durch die gaslichterhellten Straßen Londons zu folgen.
»Genauso ist es, lieber Watson«, flüsterte ich ihm verschwörerisch zu.
Er schenkte mir ein breites Grinsen. »Ich dachte, wir könnten uns dem Suchtrupp anschließen, kleine Eliza. Was sagst du dazu?«
»Ich beabsichtige nicht,
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