Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
den Blick von seinem Gesicht abwenden zu können.
Tibor war dabei, zu einem Vrolok zu werden.
»Sie verstehen es nicht«, sagte er.
Mir schwindelte, und ich spürte eine fiebrige Hitze in mir aufkommen.
»Sie verstehen nicht, Eliza«, wiederholte er, und die Panik in seiner Stimme war nicht mehr zu überhören.
Ich stand da und atmete flach. Mein Herzschlag wurde schneller. Es konnte nicht sein. Es
durfte
nicht sein. Die Wunde an seiner Stirn. Ich konnte den Blick nicht davon lösen. Tibor. Die gemeinsam verbrachten Stunden im Nationalmuseum. Die langen Gespräche. Was war geschehen? Wie hatte meine Welt sich nur derart verändern können? Wäre es ein Fehler, ihn zu umarmen? Der Drang, ihm nahe zu sein, wurde übermächtig. Ich wollte ihn spüren, ihn trösten, ihn zärtlich in meine Arme nehmen und ihm meine Gefühle gestehen. Der vernünftige Teil meines Bewusstseins registrierte jeden der Schritte, mit denen ich auf den treuen Freund zutrat.
Dann veränderte sich Tibors Gesichtsausdruck. Ich berührte ihn sanft mit dem Finger an der Stirn und registrierte die Angst in seinen Augen.
Ich
war es, die diese Angst auslöste. Der Schwindel wurde stärker. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Ich umarmte Tibor, und der Geruch seiner Haut vermischte sich mit dem süßen Opium. Mein Herz begann zu rasen. Als ich die Schnittwunde an seinem Kopf zu wittern begann, wurde mir bewusst, dass er sich gegen die Umarmung wehrte. Es kostete mich keine Mühe, ihn zu bändigen. Ich drückte Tibor gegen die kalte Steinwand und zerfetzte ihm mit einem einzigen Biss die Halsschlagader. Ganz fest presste ich mein Gesicht gegen den Körper des Freundes und begann gierig zu trinken. Unser beider Körper sanken in dieser innigen Umarmung zu Boden, und ich labte mich an dem dunklen Blut, das warm meine Lippen benetzte.
Als es vorbei war, kniete ich neben dem Leichnam des Freundes in einer blutigen Lache und begann hemmungslos zu weinen. Ich torkelte aus dem Zelt und sank draußen auf der Lichtung zu Boden. Dann schrie ich meinen Abscheu und schier unerträglichen Kummer in die anbrechende Nacht. Es war, als könnte ich gar nicht mehr aufhören zu schreien.
Dann plötzlich hielt mich jemand fest.
»Eliza!«, hörte ich die energische Stimme meines Bruders.
»Weißt du, was ich bin?«, schrie ich ihn an.
Fast flüsternd sagte er: »Wir wissen alle,
was
wir sind.« Ich bemerkte, dass auch er geweint hatte. »Der Doktor, du … ich selbst.« Er drückte mich an sich, und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Nur festgehalten werden wollte ich. Nichts weiter spüren als den Herzschlag meines Bruders.
Von weitem hörte ich die Stimme des Doktors. »Sie sollten al-Vathek kennen lernen, Miss Holland.« Doch was immer er sonst noch sagte, es ging in einer See aus bitteren Tränen unter.
Buch II
Spiegel
Kapitel 1
»Verschwiegene Geständnisse«
Die Welt ist gierig, und manchmal ist ein Schrei, ausgestoßen in der Stille, eine Melodie voller Irrsinn und Verzweiflung.
Doch sollte ich den Faden der Geschichte wieder dort aufnehmen, wo er zuvor fallen gelassen worden ist. Ja, zurückkehren sollte ich. Zu den Reisenden in dem luxuriösen Abteil des
Train bleu
, wie der Simplon-Orient-Express aufgrund seiner dunkelblau-gelben Lackierung seit alters her genannt wird. In jenen Zug, in dessen Innerem sich vor nur einem Tag eine Tragödie ereignet hatte, deren Spuren, das sei hier angemerkt, allesamt getilgt worden waren von den beflissenen Angestellten der
Compagnie Internationale des Wagons-Lits
. Jenen Zug, in dem sich argentinische und amerikanische Geschäftsleute ebenso in den Gängen trafen wie alle Arten ausländischer Dienstreisender und Diplomaten, Gildevertreter und Tunnelstreicher. Ottomanische Würdenträger in Gehrock und Fes, im Anhang verschleierte Frauen und
cafedji bachis
, die persönlichen Kaffeemeister, aber auch Speichellecker und Trittbrettfahrer, die im Schatten alt gewordener Leinwandgrößen und Rockstars reisten. Verarmte Adlige und mächtige Gangster und millionenschwere Philanthropen. Dazwischen Adepten der Black Friars und einige Soho-Punks in ihren geflickten Smokings. Eine kunterbunte Mischung von zufällig zusammengewürfelten Leuten, die es alle hinüber zum Kontinent zog.
»Sie wollten mir etwas beichten«, bemerkte Emily, kurz bevor wir in den gewaltigen Bahnhof von Saint-Lazare einfuhren, wo uns Monsieur Maspero erwarten würde.
»Beichten?«
»Nun ja, mitteilen.«
Die Sache mit McDiarmid aus
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