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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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alles andere. An das klapprige Schild aus morschem Holz mit der dahingekritzelten Aufschrift »Dombey & Son – Anstalt für heimatlose Kinder«, das den Eingang zu dem armseligen Kinderheim geziert hatte, das von Reverend Charles Dombey nebst seinem Sohn Charles Dombey junior geführt worden war. Ein altes Backsteinhaus war es gewesen, drüben im Hafenviertel von Rotherhithe gelegen, ein ehemaliges Lagerhaus, dessen Fassade bröckelte und das einstmals sogar, in den alten Zeiten, als Hafenmeisterhaus gedient hatte.
    An so vieles konnte sich Emily noch wirklich gut erinnern. An die Gerüche im Treppenhaus und den Schlafräumen, an die modrigen Lebensmittel in der Küche, die tief im Keller des Waisenhauses untergebracht gewesen war. An die Kammer des Reverends mit all den staubigen Aktenordnern und dem von Dokumenten und losen Blättern überfüllten Schreibtisch. An die Gesichter der anderen Kinder konnte sich Emily auch noch erinnern, wenngleich viele von ihnen mit den Jahren immer undeutlicher wurden. Schmutzige Gesichter mit traurigen Augen waren es gewesen, allesamt. Zerwuschelte Haare und Münder, die nur selten ein Zittern verbergen konnten, wenn der Hausmeister Mr. Meeks seine Runden machte.
    Doch ein Gesicht fehlte.
    Elizas Gesicht.
    »Ich kann mich ihrer nicht entsinnen«, gestand Emily.
    Sosehr sie sich auch anstrengte.
    Da war nur ein leerer Fleck in ihrer Erinnerung.
    Ich half ihr auf die Sprünge.
    »Wer hat Ihnen damals, als Sie selbst noch nicht zu lesen imstande waren, die Gutenachtgeschichten vorgelesen?«
    Emily legte die Stirn in Falten.
    Ihre Finger kraulten nervös das Fell der Rättin.
    »Ich weiß es nicht.«
    Ganz unsicher und schwach klang ihre Stimme.
    Rotherhithe.
    Wie seltsam schneidend dieser Name nach all den Jahren noch klang. Ja, an die alten, zerfledderten Taschenbücher, die sie selbst gelesen hatte, daran konnte sie sich noch gut erinnern. An jene kostbaren und stillen Momente zwischen dem Küchendienst und den Aufräumarbeiten im Treppenhaus. Auf ihrer Pritsche im Schlafsaal hatte sie dann gekauert und war ganz in den Welten versunken, die sich zwischen den gedruckten Zeilen aufgetan hatten, bis Miss Philbrick, die Köchin, sie mit keifender Stimme erneut zur Arbeit gerufen hatte. Geliebt hatte sie die staubigen Bücher, die einmal im Monat von einem alten Mann, der die zerlesenen Werke wohl in den städtischen Bibliotheken erstanden hatte, vorbeigebracht worden waren.
    Doch was war vorher gewesen?
    »Es hat jemanden gegeben, der uns aus Büchern vorgelesen hat.« Eine ferne Stimme hallte tief in dem Teil ihrer Erinnerungen, der von Nebel und Vergessen heimgesucht worden war. Eine Stimme, die Märchen erzählt hatte, die Bücher mit großen Bildern aufgeklappt und Kinderreime vorgelesen hatte, die so nett und vertraut geklungen haben mussten, dass mit einem Mal ein verzaubertes Lächeln Emilys Mund umspielte, jetzt, da sie sich zu erinnern versuchte. »Jemand ist zu uns ins Waisenhaus gekommen, um uns vorzulesen.« Sie sah mich an und ahnte bereits, was zu sagen ich im Begriff war.
    »McDiarmid ist davon überzeugt«, murmelte ich, »dass Miss Holland dem Waisenhaus regelmäßige Besuche abgestattet hat.«
    Die Konsequenz dessen war beunruhigend.
    »Eliza Holland hat Reverend Dombey gekannt.«
    Emily schluckte, antwortete fassungslos: »Das glaube ich nicht.«
    Reverend Dombey war ein grausamer Mensch gewesen. Ein Gehilfe des Lichtlords zudem. Alt, dank urtümlicher Alchemie. Gelitten hatten die Kinder von Rotherhithe unter seiner Knute. Und Eliza sollte mit einem solchen Menschen zu tun gehabt haben? Emily wollte das einfach nicht glauben.
    »Jemand, dessen Aussage McDiarmid Glauben schenkt, hat es bestätigt.«
    »Wer?«
    »Miss Philbrick.«
    Die Köchin des Waisenhauses.
    »Sie hat sich an Miss Holland erinnert. Und auch an ihren Bruder, Tom Holland. Beide sind regelmäßig im Waisenhaus zu Gast gewesen in einer Zeit, als Sie, Emily, keine vier Jahre alt gewesen sein müssten.« Ich machte eine kurze Pause. »Miss Holland war, laut Miss Philbricks Beteuerungen, einmal in der Woche in Rotherhithe, um den Kindern Geschichten vorzulesen.«
    Konnte das sein?
    Emily dachte an die Aufzeichnungen ihrer Freundin. Daran, dass Tom Holland seine kleine Schwester mit erfundenen Geschichten zu trösten versucht hatte, wenn die Trübsal der Welt ihr junges Herz ergiffen hatte. War es möglich, dass Eliza den Kindern von Rotherhithe ähnlich Gutes hatte tun wollen?
    Aber das ist nicht alles,

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