Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
hatte. »Pech, das war es gewesen. Einfach nur Pech. Mit vierzehn Jahren bin ich auf dem glatten Fußboden ausgerutscht und habe mir den Schenkel gebrochen. Ein Jahr später bin ich zu allem Überfluss in einem seichten Graben gestolpert und habe mir den anderen Schenkel gebrochen.« Mit der Hand hatte er gegen die kurzen Beine geschlagen, die, wenn er am Tisch saß, in der Luft baumelten. »Sind nicht gut verheilt, die Brüche, und jetzt sehe ich nun einmal so aus, wie ich aussehe. Ein Mann mit den Beinen eines Zwerges, das bin ich. Nun ja, es gibt Schlimmeres, nicht wahr.«
    Emily hatte an das Waisenhaus denken müssen.
    An die anderen Kinder mit ihren Sprüchen.
    »Du hast ein schönes Auge«, hatte Toulouse bemerkt. »Es muss auch für dich nicht einfach gewesen sein, damit klarzukommen. Nun ja, manchmal spielt das Schicksal seltsame Streiche. Aber es lässt sich trotzdem gut leben in dieser Welt.« Er hatte Emily angegrinst. »Wir Krüppel müssen da zusammenhalten, was meinst du?«
    »Frag nicht!«, hatte Emily entgegnet.
    Zu schnell, als dass es freundlich geklungen hätte.
    Später, als sie mit Adam in die Cité lumière abtauchte, musste sie erneut an diese Bemerkung denken. Nein, Toulouse hatte es mit Sicherheit nicht böse gemeint. Er hatte nur ausgesprochen, was in seinem wirren Kopf vor sich gegangen war.
    Trotzdem.
    Es hatte wehgetan.
    Und sie hatte sich geschämt.
    Vor Adam.
    Das Mondsteinauge war ein Teil von ihr, und der Demütigungen hatte sie im Waisenhaus und in der Whitehall-Schule genug erfahren müssen. Da brauchte sie nicht diesen überdrehten Maler, der ihr fröhlich verkündete, dass sie als Krüppel einiges gemeinsam hatten.
    Nein, wahrlich, das musste sie sich doch nicht anhören.
    »Was ist los?«, fragte Adam.
    »Nichts.«
    Lady Mina verdrehte die Augen.
    Er sorgt sich um dich.
    Emily warf ihr einen Blick zu, der Eis hätte schneiden können.
    So stiegen sie in Barbès Rochechouart in die Métro hinab. Vergaßen dieses Mal nicht, die Fahrscheine zu entwerten. Zwängten sich in einen Zug, der sie hinunter zum Gare de l’Est bringen sollte, wo sie sich durch blitzblank polierte Röhren zum Bahnsteig der Linie 7 begeben würden, die sie dann endlich nach Poissonnière brächte.
    In den Zügen durchgeschüttelt zu werden, beruhigte Emily jedenfalls, weil dieses Gefühl etwas Vertrautes war. Etwas, das sie an London denken ließ.
    Adam Stewart saß dicht neben ihr.
    »Denkst du an deine Freundin?«
    »Ja.«
    Auch von Aurora hatte sie ihm erzählt.
    »Du wirst sie finden.«
    »Bist du dir da so sicher?«
    Er sah sie an. »
Du
bist dir sicher, Emily.«
    Ja, eigentlich war sie das.
    Denn sie hatte Auroras Gedanken gespürt und in das Gesicht von Dr. Dariusz geblickt. Was dies alles zu bedeuten hatte? Emily rieb sich müde die Augen. So viele Dinge passierten auf einmal. Dinge, die nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Die aber doch in einem Zusammenhang standen. Stehen mussten.
    »Wittgenstein«, sagte sie leise, »ist bisher immer zurückgekehrt.«
    »Dein Mentor?«
    »Manchmal denke ich«, gestand Emily, »dass er so etwas wie ein Vater für mich ist.« Sie hielt kurz inne. Und verbesserte sich: »Nun ja, wohl eher so etwas wie ein verschrobener Onkel.« Sie verdrehte die Augen. »Ein mürrischer, alter Onkel. Das trifft es besser.« Mit einem Mal wurde Emily bewusst, wie sehr sie ihr Zuhause doch vermisste. Sie dachte an Marylebone. An Peggotty und die warme Milch, die auf dem Küchentisch stand. An den Geruch des Treppenhauses und die Geräusche, die die Pflanzen auf den Balkonen machten, wenn man sie im Vorbeigehen streifte. An die Ruhe in ihrer Dachkammer und den Blick durch das Fenster hinaus auf die City.
    An St. Pauls.
    Lucifer.
    Und Lilith.
    Die Konsumschönheiten der Plakatwerbung sahen auf die Obdachlosen herab, die auf den Bahnsteigen in alkoholisierten Grüppchen lagerten. Wie verzerrt die Wirklichkeit doch sein konnte. Und wie gern Menschen sich der Illusion hingaben, die künstliche Schönheit dieser Bilder sei die Wirklichkeit, in der sie lebten. Ja, genau dies war der Eindruck, der Emily schon seit einiger Zeit beschlichen hatte. Das war es, was ihr an Paris missfiel. Alles hier wirkte künstlich, irgendwie falsch. So perfekt. Glatt und steril. Die Obdachlosen schienen gar nicht in dieses Bild hineinzupassen, und doch waren sie da.
    Der Tunnel, durch den sie gerade gingen, ähnelte mit seinen glänzenden Stahlwänden dem Inneren eines Unterseeboots, so wie Jules Verne

Weitere Kostenlose Bücher