Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
mich an.
Und Adam bemerkte: »Hier muss es irgendwo sein.«
Ein lauwarmer Wind blies aus vielen Richtungen.
Emily hob den Blick und sah dicke Balken, von denen die Höhlendecken gestützt wurden. Die jedoch viel zu morsch und brüchig wirkten, als dass sie demjenigen, der zaghaft diese Höhlen durchwanderte, einen Funken Sicherheit zu geben vermochten.
»Nahe den Gipskathedralen sollten wir ihn finden«, erinnerte sich Adam an die Wegbeschreibung, die Toulouse ihnen gegeben hatte.
»Oder er findet uns.«
Dann sahen sie die Grabsteine.
Zackig und krumm ragten sie aus dem Boden, wie schiefe Zähne, die von Fäulnis befallen waren. Inmitten einer der größten Höhlen befand sich ein ganzes Feld dieser Grabsteine, zwischen denen seltsam geformte Pflanzen wuchsen.
»Was ist das?«
Adam zuckte die Achseln.
»Es sieht wie ein Friedhof aus.«
Lady Mina schnüffelte.
Die Erde riecht ganz und gar nicht gut.
Sie traten näher an die Grabsteine heran.
Die seltsam süßlich riechenden Pflanzen, die wie verwelkte Blumen mit zerfransten Blättern aussahen, schlängelten sich giftigem Efeu gleich um die Steine, auf denen jegliche Inschriften fehlten.
Emily sah, dass sich die Pflanzen bewegten.
Die Blüten, die entfernte Ähnlichkeit mit Tulpen besaßen, schienen förmlich zu atmen.
»Es gibt Geschichten«, flüsterte Adam und sah sich um, »die von solchen Friedhöfen berichten. Davon, dass Menschen, die sich verirrt haben, in Gräbern enden, auf denen seltsames Gesträuch wächst.« Auch er betrachtete die Grabsteine mit den seltsamen Schlingpflanzen.
»Wer beerdigt sie?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Emily legte die Hand auf einen der Grabsteine.
Er war kalt.
Rau.
Die Bilder, die sie durchzuckten, kamen plötzlich, wie sie es immer taten, wenn sich ihr eines anderen Menschen Erinnerung erschlossen.
»Emily!«
Adams Schrei verhallte in ihrem Bewusstsein.
Machte den Bildern Platz.
Sie sah Gestalten in pechschwarzen Roben mit Kapuzen. Ein Mädchen, das schrie. In Todesangst kreischte. Emily war dieses Mädchen. War diejenige, die nun sah, was das Mädchen gesehen hatte. Ja, das Mädchen war jemand anders. Jemand Fremdes, den man hierher gebracht hatte. Der Boden, die dunkle feuchte Erde, öffnete sich zu einem Grab, und die Gestalten, deren Hände wie Schraubstöcke waren, betteten das Mädchen in einen hölzernen Sarg. Gefühle der Panik überfluteten Emily. Da war ein Sargdeckel, der sich schloss. Eine Bewegung, die darauf schließen ließ, dass der Sarg in der Erde versenkt wurde. Dort, wo sich der feuchte Grund wie von Geisterhand gelenkt zu einem tiefen Loch geöffnet hatte. Das Mädchen, das Emily nun war, schrie. Weinte. Hämmerte mit den Fäusten gegen den Sargdeckel. Hörte, wie Erdklumpen auf dem Holz aufschlugen. Das Mädchen dachte an den Jungen, den es liebte und der, das befürchtete sie, ein ähnliches Schicksal erleiden würde. In der Métro hatten sie sich geküsst, waren auf dem Weg nach Hause gewesen. Ein Restaurant hatten sie besucht gehabt, in der Rue Turgot. Hatten geredet und sich angesehen und getan, was Verliebte tun, die sich gefunden haben und die Zeit vergessen. Dann waren sie in der Métro gewesen. Hatten einander geküsst. Das Bewusstsein verloren, als sie allein im letzten Zug gesessen hatten. Wie, das wusste sie nicht. Nicht mehr. Aufgewacht war sie in dieser Höhle, wo ihr eine Stimme verkündet hatte, dass sie niemals erfahren würde, welches Schicksal ihr Liebster in eben diesem Augenblick erleiden musste, doch versichert könne sie sein, dass er leiden würde, ja, schrecklich leiden, bevor er diese Welt verlassen würde. Dann war da der Sarg und die Dunkelheit und die Gewissheit, an diesem Ort zu sterben, und die Ungewissheit, was mit ihrem Liebsten geschehen war. Befürchtungen und Gedanken marterten das Mädchen in dem Sarg, während sie sich die Haut an den Händen aufschürfte und die lackierten Fingernägel abriss bei dem Versuch, den Deckel zu öffnen. Mit der Atemluft schwanden ihre Lebensgeister. Dann wuchs etwas aus ihrem Körper. Wurzeln. Sie spürte, wie sie ihre Haut bedeckten. Wie Spinnweben, so fein. Etwas fraßen, das tief in ihr drinnen zu einem Knoten der Angst geworden war.
»Emily!«
Sie schlug die Augen auf.
Adam war da, und ihr Kopf ruhte in seinem Schoß.
»Was, in aller Welt, war das denn?«
»Ich bin eine Trickster«, stammelte Emily nur, noch ganz benommen von den Bildern, die sie heimgesucht hatten.
Der Junge sah sie fragend
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