Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
ihnen mitteilte. »Was befindet sich dort unten?«
»Anders als die uralte Metropole, ist
la ténébreuse
bereits vor Jahrzehnten verlassen worden.« Emily konnte ihr Spiegelbild im Zwicker des Malers erkennen, so verschwörerisch nah kam er ihr. »Etwas dort unten hält die Stadt am Leben. Es bewahrt die Cité lumière davor, im Chaos und Leid zu versinken. Aber dieses Etwas, so flüstert man sich in den Spelunken hinter vorgehaltenen Händen zu, will genährt werden.« Toulouse blinzelte. »Kurzum, niemand treibt sich freiwillig dort unten herum.
La ténébreuse
ist ein gefährlicher Ort, an dem es nichts gibt als norwegische Ratten und Kakerlaken.«
Norwegische Ratten?
Lady Mina wirkte äußerst besorgt.
»Was hat sie gesagt?«, wollte Toulouse wissen.
Emily sagte es ihm.
»Oh ja, die norwegischen Ratten.«
Sie sind Barbaren
, erklärte Lady Mina.
Berserker, Rudeljäger. Völlig unzivilisiert, wie man sich erzählt. Wir sollten uns vor ihnen vorsehen.
»Rattus norvegicus.« Toulouse verzog das Gesicht. »Die Kanalarbeiter nennen sie
gaspards
oder
cousins
. Große Biester sind das. Fett. Bissig. Angriffslustig. Und immer tauchen sie in Rudeln auf.«
Es gibt Geschichten, die ich als Kind gehört habe,
bemerkte Lady Mina.
Von jenen unserer Art, die in Scharen nach Paris gewandert sind, als ein Erdbeben ihre Heimat am Kaspischen Meer heimgesucht hat. Brutal sind sie in der Kanalisation eingefallen. Die alteingesessenen Stämme wurden überrannt. Getötet. Gefressen.
Angeekelt wandte sich die Rättin ab.
Wir haben einen Namen für sie. Die, die ihre Toten essen.
»Klingt verlockend.« Emily und Adam tauschten Blicke.
»Die Cité lumière ist das schöne Paris, das jedermann kennt, mit seinen Parks und Flaniermeilen und Museen, nicht zu vergessen die endlosen Röhren der Métro. Aber anders als in London gibt es jenseits der Métro keine Welt, die den Menschen offen stünde. Nicht mehr, jedenfalls.« Toulouse zog an der Wasserpfeife, die in seinem Schoß lag. »Nur einige wenige trauen sich noch dort hinunter. Es ist schwierig, so jemanden zu finden.« Ein breites Lächeln erhellte das schiefe Gesicht. »Doch Toulouse hat einen aufgetrieben. Monsieur Morland ist ein
vagabond ténébreuse
. Er kennt sich dort unten aus. An ihn solltet ihr euch wenden.«
»Und wird er uns auch helfen?«
»Er ist euer Landsmann«, verkündete Toulouse. »Ein Engländer. Seit einiger Zeit erst wieder in Paris, wie ich hörte. Naja, solche Leute kommen und gehen, wie es ihnen in den Kram passt. Aber wir wollen uns nicht beschweren. Jetzt ist er hier, und ich denke, dass er euch beiden helfen wird, zur Katzengöttin zu kommen.«
»Warum sollte er das tun?«, fragte Emily.
»Ich werde ihn darum bitten. Toulouse und Morland sind alte Bekannte. Wir haben uns einst in London kennen gelernt, damals, als ich dort gewesen bin, um neue Eindrücke zu gewinnen und diesen grässlichen Menschen getroffen habe, der sich nicht hat portraitieren lassen. Oscar Wilde, der ein Star in der noblen Gesellschaft war und gleichzeitig von ihr verurteilt wurde. Tja, tja, das ist nun wirklich lange her.«
»Wann brechen wir auf?« Emily war jemand, der Sachen auf den Punkt bringen konnte.
Und Toulouse erwiderte: »Warum warten?«
So machten sie sich also nach einem kargen Frühstück auf den Weg und verließen die Absteige, die ein Hotel war, Richtung Barbès Rochechouart. Es schneite und einige der dicken Schneeflocken verfingen sich in Emilys Haar. Adam Stewart, der sich in dieser Gegend auskannte, ging voran. Emily hintendrein, die schweigsame Lady Mina auf ihrer Schulter und den Rucksack mit den Erinnerungen Elizas darin geschultert.
Bastet, dachte Emily, als die Métro-Station bereits in Sichtweite war, hatte ihr am Jardin du Luxembourg geholfen. Doch warum? Wenn sie eines während ihrer Ausbildung gelernt hatte, dann war es die Tatsache gewesen, dass kein Wesen ohne ein selbstsüchtiges Motiv handelte.
»Warum sie dir geholfen hat? Keine Ahnung. Aber sie hat es getan. Und das Quartier Latin ist nicht einmal ihre
comté
.« So einfach war die Antwort für Toulouse gewesen. »Und wenn du deinen Mentor suchst, dann ist Bastet diejenige, die dir helfen kann. Wenn dir überhaupt jemand helfen kann, dann sie.« Er hatte Emily aufmunternd zugenickt. »Begleiten kann ich euch beide leider nicht. Dumme Sache, wegen der Beine, wie schon gesagt.«
Emily hatte es vorgezogen, zu schweigen.
Was sie nicht vor einem weiteren Redeschwall des Malers bewahrt
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