Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
ausleuchtete. Bevor wir recht erkennen konnten, wie das Geschöpf aussah, spürte ich die Berührung einer knochigen Hand an meinem Arm. Mit einem kurzen Aufschrei wich ich instinktiv zurück. Meine beiden Begleiter erschraken gleichermaßen.
    Die Kreatur erhob sich aus dem Sarkophag. Ihre Bewegungen entbehrten jeglicher Eleganz. Das Entsetzen in den Augen al-Vatheks lähmte uns alle für einige Augenblicke. War dieses Geschöpf einmal Nefer-titi, die schönste Frau im Reiche, gewesen? Mit ruckartigen, von Gier getriebenen und doch wenig kraftvollen Bewegungen kroch sie aus dem engen, dunklen Verlies. Als sie in den Schein der Laterne, die ich hatte fallen lassen, kam, erkannte ich die dünnen Gliedmaßen, die missgestaltet und krumm und von einer ausgetrockneten Haut überzogen waren. Der Schädel der Kreatur ließ die Frau, die sie einmal gewesen war, nur erahnen. Dunkle, tief in den Höhlen liegende Augen blickten ohne Verstand in der Kammer umher. Das röchelnde Atmen mochte ein Wittern nach Nahrung sein. Als ein fetter Käfer ihren Weg kreuzte, griff sie flink nach ihm und zermalmte ihn knackend mit dem bloßen Kiefer. Ihre Zähne, so bemerkte ich, musste sie schon vor langer Zeit eingebüßt haben.
    »Al-Vathek!«, schrie ich ihn an. Der Angesprochene stand ratlos da, und mit Erschrecken wurde ich mir der Tränen in seinen Augen bewusst. Wir alle hatten ein Wesen erwartet, das sich bedrohlich auf uns stürzen würde. Eine Gestalt, die in ihrem Blutdurst kaum zu bändigen sein würde. Doch wessen wir hier Zeuge wurden, hatte niemand erwartet. Das also, dachte ich benommen, kann aus uns werden.
    Die Kreatur hielt inne und hob den Kopf, starrte mich an.
    »Töten Sie es, al-Vathek«, forderte Tom unseren Begleiter auf.
    Der Kopf der Kreatur drehte sich in meines Bruders Richtung. Plötzlich wurde mir die Bedeutung dieses Verhaltens bewusst. Sie konnte uns nicht sehen. Nefer-titi hatte ihr Augenlicht in der Dunkelheit verloren. Sie wand sich auf dem Boden, war kaum ihrer Glieder mächtig. Ihr Mund öffnete sich. Ihre Stimmbänder produzierten nur noch ein dunkles Krächzen, guttural und wild. Die fauligen Lippen versuchten Worte zu formen. Nein, keine Worte. Nur ein einziges: Darius.
    »Mein Gott«, entfuhr es mir. Sie erinnerte sich offenbar an ihn. Konnte das möglich sein?
    »Bringen Sie die Kreatur um!«, schrie Tom al-Vathek an und hoffte, diesen aus seiner Lethargie zu reißen.
    Al-Vathek hielt den Säbel noch immer fest in der Hand. Dann tat er einen Schritt auf die Kreatur zu. »Sie ist bereits tot«, sagte er. Er hob den Säbel bis über den Kopf und trennte seiner Geliebten mit einem Schlag den Kopf vom Leib. »Nefer-titi«, schrie er, als die Kreatur zu seinen Füßen lag. Wieder und wieder schlug er auf sie ein. Ich konnte hören, wie der Säbel die Luft zerschnitt, als er Arme und Beine abtrennte. Er bohrte sich in den Brustkorb und ihr einstmals hübsches Gesicht. Inmitten dieser Raserei flüsterte al-Vathek unter Tränen ihren Namen mit jedem neuen Hieb und hielt erst inne, als der Leichnam vollkommen zerstückelt den Boden der Grabkammer bedeckte.
    Dann war es vorbei.
    Die Stille, die sich um uns herum ausbreitete, wurde immer unerträglicher. Al-Vathek stand bewegungslos da, die Augen geschlossen, den Säbel noch immer fest in der Hand. Die Überreste Nefer-titis verströmten einen grauenhaften Gestank, und ich fragte mich, was mich am meisten traf in diesem Moment. Die Erkenntnis, dass man ein Wesen unserer Art einem unvorstellbaren Leiden überantworten kann? Der Gedanke an den Wahnsinn, der Nefer-titi zu dem gemacht hatte, was da aus dem Sarkophag auf uns zugekrochen gekommen war? Die Vorstellung, dass sich der schwere Deckel des Sarkophags über den offenen Augen schloss, um nie wieder geöffnet zu werden? Die Geräusche der Insekten, die jetzt panikartig das ausgediente Behältnis verließen und die Überreste des Leichnams zu bevölkern begannen?
    Vielleicht war es auch die offen zutage tretende Trauer und Verzweiflung in den Augen al-Vatheks. Nur mit Mühe hielt er die Selbstbeherrschung aufrecht. Schließlich tat ich etwas, was ich mir bis heute nicht erklären kann. Ich trat auf ihn zu und nahm ihm den Säbel aus der Hand. Er öffnete die Augen und war in diesem Moment wieder er selbst. Er musterte mich und gab mir mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass es nun vorbei war.
    Dann verließen wir die Grabstätte.
    Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.
    Am 17. Feburar 1923

Weitere Kostenlose Bücher