Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
bin nicht direkt nach Rotherhithe gebracht worden«, sagte Aurora.
»Ich dachte, du hättest Pflegeeltern gefunden.«
»Was hast du denn dann mit dem Waisenhaus von Rotherhithe zu tun gehabt?« Emily spürte, dass sich hier der Kreis schließen musste. Dass die verschlungenen Pfade allesamt hinüber zum Südufer der Themse führten. Ins »Dombey & Son«, wo Emily und Aurora lange Jahre verbracht hatten.
»Reverend Dombey war mir bereits aus Ägypten bekannt gewesen, ebenso natürlich Miss White, meine Mentorin.« Unablässig schritt Eliza von einer Wand zur anderen. »Al-Vathek, müsst ihr wissen, hatte einen Jungen dort hinbringen lassen.« Sie sah Emily an. »Du hast meine Aufzeichnungen gelesen, Emmy. Du erinnerst dich an Aghiresu. An das, was in den Wäldern geschehen ist, als wir die Vrolok verfolgt hatten.«
Emily erinnerte sich.
Konnte das sein?
Meinte sie wirklich den Jungen?
Eliza nickte. »Der kleine Junge des Schmieds, den die Vrolok geraubt hatten und zu dessen Rettung wir aufgebrochen waren.«
Emily erinnerte sich.
Al-Vathek hatte den Jungen vor dem sicheren Tod bewahrt.
»Während al-Vathek Doktor Pickwick, meinen Bruder und mich nach Budepest begleitete, hatte sich ein Diener al-Vatheks des Jungen angenommen und war mit ihm nach London gereist, wo der Kleine der Obhut Reverend Dombeys überantwortet wurde.«
»Wie war sein Name?«, wollte Emily wissen.
»Paul.«
Es schwindelte Emily.
»Es gibt keine Zufälle«, murmelte ich nur.
Immerhin waren mir die alten Geschichten bekannt.
Als Emily sechs Jahre alt war, hatte sie hin und wieder in der Küche des Waisenhauses aushelfen dürfen. Die Köchin Mrs. Philbrick hatte sie Gemüse schneiden lassen, während einer der älteren Jungen das heiße Wasser vom Herd hatte nehmen sollen.
»Paul«, murmelte Emily.
Sie tastete nach ihrem Mondsteinauge, und fast war ihr, als spüre sie erneut den Schmerz von damals. Jenes Brennen, das wie Feuer im Gesicht gewesen war.
Denn an jenem Morgen war der unglückliche Paul gestolpert und hatte das kochend heiße Wasser auf des Hausmeisters Kater Mr. Biggles vergossen. Maunzend und kreischend hatte sich der feiste Kater auf dem Boden gewälzt, und als Mr. Meeks dem Tier zu Hilfe geeilt war, da hatte er ohne lange nachzudenken mit dem Rohrstock auf den Schuldigen eingedroschen.
Emily flüsterte den Namen erneut: »Paul.«
Dummerweise hatte der Rohrstock Emily mitten ins Gesicht getroffen. Ein Versehen nur, doch eines mit Folgen. Aufgeschrien hatte sie, in heller Panik. Alle waren zusammengelaufen. Man hatte ihr Tücher auf die Wunde gepresst und sie getröstet.
Das linke Auge aber hatte keiner mehr retten können.
»Paul war der kleine Junge aus Aghiresu?«
Eliza nickte. »So ist es.«
Paul Tucsek.
Das war sein Name gewesen.
Und Emily verstand mit einem Mal, was damals geschehen war. »Du bist seinetwegen ins Waisenhaus gekommen. Pauls wegen.«
»Ja.«
Eliza hatte sich um den Jungen kümmern wollen. »Das Leben, das ich einst gekannt hatte, war in Stücke zerbrochen. Den Kontakt zu meinem Elternhaus hatte ich abbrechen müssen, und Salisbury war zu einem toten Punkt in meiner Vergangenheit geworden, an den ich niemals wieder zurückkehren wollte.«
Also war Eliza regelmäßig ins Waisenhaus von Rotherhithe gekommen und hatte das getan, was sie selbst als Kind so genossen hatte. »Ich habe den Kindern vorgelesen, wie Tom es immer getan hat. Auch dir, Emily, habe ich vorgelesen.«
»Aber ich kann mich an nichts erinnern.«
»Du erinnerst dich an die Geschichte von al-Vathek. An das, was den Wächtern des Grabes widerfahren ist.«
Emily verstand.
»Wiedergänger«, erklärte Eliza, »sind dazu in der Lage, die Gedanken der Menschen zu manipulieren. In gewissem Maße nur, versteht sich.«
Emily erinnerte sich an so viele Dinge. Auch an den Abend, an dem sie in die Kammer des Reverends eingebrochen war. Aktenordner hatten den Raum gefüllt, und auf einem der Ordner hatte ein Name geprangt, den das Mädchen sofort wieder vergessen hatte.
Miss Wilhelmina White.
Eliza Hollands Mentorin, die lange Zeit in Ägypten geweilt hatte. Die von den Kindern des Waisenhauses gefürchtet worden war wie keine andere Person.
»Du hast Madame Snowhitepink gekannt.«
»Ja, aber ich wusste nicht, dass sie die Lady Lilith ist.«
»Wann hast du es erfahren?«
»Vor vier Jahren, als die Manderley-Krise vorüber war.«
Emily musste an die Kinder denken, die Madame Snowhitepink mit sich genommen hatte und die
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