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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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aufgereiht an der Wand direkt neben der Matratze, die übersät war mit Kissen aller Größen und Muster. Weitere teilweise sogar aufgeschlagene Bücher und alte zerknitterte Zeitschriften lagen haufenweise aufgetürmt einfach so herum.
    Darüber hinaus war das Zimmer leer.
    Keine Vorhänge, kein Teppich, keine Stühle, kein Tisch.
    Emilys Leben schien sich auf dem hellen Dielenboden abzuspielen.
    »Eliza«, hatte Emily gesagt, »ist am Boden zerstört.«
    Aurora hatte geschwiegen.
    Es bedurfte keiner besonderen Begabung, um die Gedanken des dunkelhäutigen Mädchens zu erraten.
    »Du denkst an ihn, stimmt’s?«
    An Neil Trent.
    »Wir haben uns doch kaum gekannt«, hatte Aurora nur geantwortet.
    Der Junge, dem Aurora vor vier Jahren ihr Herz geschenkt hatte, war viel zu plötzlich vom Angesicht der Welt verschwunden und hatte ein trauriges Mädchen zurückgelassen, das sich nicht mit dem Gedanken anfreunden wollte, dass der Junge, der zu ihr doch an jenem Abend im Raritätenladen versprochen hatte zurückzukehren, eben dieses Versprechen wohl niemals würde einhalten können.
    »Er ist nicht tot.« Trotzig hatte dies geklungen. Bekümmert. »Ich spüre es.« Und nach einer Pause: »Hat der Engel nicht gesagt, dass nichts wirklich stirbt.«
    Emily war zu ihrer Freundin gegangen, hatte sich neben sie auf die Matratze gehockt und den Arm um ihre Schultern gelegt.
    Die dunklen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. »Er ist mir bis in die Hölle gefolgt, Emmy. Es kann doch nicht sein, dass dies alles gewesen ist.«
    Besorgt hatte Emily festgestellt, wie erschöpft Aurora wirkte.
    »Geht es dir gut?«
    Wie oft hatte sie ihrer Freundin während der letzten Wochen diese Frage gestellt. Und niemals eine Antwort erhalten. Immer hatte Aurora nur müde lächelnd abgewinkt.
    »Es war ein langer Tag gewesen«, war auch an diesem Abend alles, was sie dazu zu sagen bereit war. Und trotz ihrer Erschöpfung fanden die Mädchen noch die Zeit, in der wohligen Dunkelheit des Zimmers, wo die dürftige Straßenbeleuchtung tanzende Schattengebilde an die Decke zauberte, über all die Dinge zu schweigen, die ihre jungen Herzen bedrückten.
    »Man weiß doch erst, dass man zu Hause ist«, hatte Aurora ihr einmal gesagt, »wenn da jemand ist, mit dem man gemeinsam schweigen kann.«
    Emily hatte nichts erwiedert.
    Nur geschwiegen.
    Ganz lange.
    So wie jetzt.
    Neben einander saßen sie auf der Matratze, knabberten Kekse, tranken die heiße Milch, die Peggotty ihnen nach oben gebracht hatte, und dachten an die Geschichte, die noch immer in ihren Köpfen herumspukte.
    Nun, da Emily und ich im Begriff waren, in Bethnal Green in die uralte Metropole hinabzusteigen, kamen dem Mädchen erneut die Vinshati in den Sinn. War es nicht nahe liegend, dass der nächtliche Verfolger eine solche Kreatur gewesen war? Dass die Vinshati in die Stadt der Schornsteine gekommen waren? Gemeinsam mit der grausamen Göttin Kalidurga?
    In der Nacht hatte sich jedenfalls erneut ein grausamer Mord zugetragen, dem Muster der vorangegangenen Verbrechen ähnelnd. In den frühen Morgenstunden hatten Angestellte der
London Regional Transport
die, wie es ein Sprecher der BBC verlas, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche einer jungen Frau auf den Treppenstufen der Aldgate Station gefunden. Der Leichnam war nahezu blutleer gewesen.
    »Glauben Sie, dass die Vinshati die Frau getötet haben?« Alexander Grant mit der Tat in Verbindung zu bringen, widerstrebte dem Mädchen.
    »Ich weiß es nicht. Den Wiedergängern«, erklärte ich ihr, »ist es verboten, die Stadt zu betreten. Laut eines Gesetzes, das der Senat bereits vor mehr als hundert Jahren verabschiedet hat, ist Wiedergängern – oder Vampyren, was für die meisten Menschen ein geläufigerer Begriff ist – der Aufenthalt in der uralten Metropole untersagt.«
    Wir fuhren auf einer langen Rolltreppe hinab zu den tiefer gelegenen Bahnsteigen von Bethnal Green, schritten durch röhrenartige Gänge voll staubiger verwaister mannsgroßer Spinnweben. Die rostige Tür zu einem der stillgelegten Versorgungstunnel war eines der Portale zur uralten Metropole in diesem Teil der Stadt.
    Schließlich erreichten wir den menschenleeren Bahnsteig tief unter der Central Line. Die Tunnelstreicher nennen diesen Ort Waterstones Junction, weil hier die ersten zaghaften Bäche über Kieselsteine plätschern, unschuldige Rinnsale nur, bevor sie drüben in Barkingside Beneath zu den mächtigen unterirdischen Flüssen verschmelzen, die

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