Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
man nur mittels Kanälen und Aquädukten zu bändigen weiß.
Doch die Bahngleise ragen auch hier kaum aus den dreckigen Fluten heraus, sodass Emily das Gefühl beschlich, sie stehe vor einem Kanal, dessen Wellen einen nahenden Zug ankündigten.
»Treten Sie zurück«, riet ich ihr.
Ich deutete auf die sich immer unruhiger kräuselnde Wasseroberfläche.
Als sie rumpelnd in den Bahnhof einfuhr, da schien die alte GEC-Alsthom-Metro-Cammell mitten in einem Fluss zu fahren. Überall schwappte das Wasser auf den Bahnsteig, und schnell wich Emily noch weiter zurück, damit ihre Füße nicht von der brackigen Brühe berührt wurden.
»Die Newbury Line«, erklärte ich ihr, »wird uns ans Ziel bringen.«
Der Zug kam ruckartig zum Stillstand.
»Was ist das?«
Was Emily meinte, war nicht schwer zu erraten.
Die Fensterscheiben waren mit den Abdrücken von Händen übersät.
Nur ein einziges Wort beantwortete ihre Frage: »Blut.«
Die Türen des Zuges waren noch verschlossen. Drinnen war kein Anzeichen von Leben zu erkennen. Nicht die geringste Bewegung.
Nur Stille.
»Spüren Sie etwas?«
Emily konzentrierte sich, bediente sich ihrer Trickster-Fähigkeiten und suchte nach einem fremden Bewusstsein.
Ihre Lippen begannen zu beben, noch bevor sie die Worte fand. »Sie kommen durch den Tunnel, der uns hierher geführt hat.« Blitzlichtartige Bilder bestürmten Emily. Lange Krallen auf nacktem Stein. Gutturales Keuchen. Emotionen wie feuchte Erde nach einem Regenschauer. »Es sind viele«, sagte sie laut und deutlich und öffnete die Augen. Furcht war in dem einen zu erkennen.
»Sind es Vinshati?«
»Ja.«
Zumindest erkannte sie eine Ähnlichkeit mit den Emotionen, die sie während der Toderfahrung in Barkingside Beneath gehabt hatte.
»Was sollen wir jetzt tun?«
Vor uns stand der Zug.
Mit noch immer geschlossenen Türen.
»Handeln«, sagte ich.
Ich stapfte schnellen Schrittes durch das stinkende schmutzige Wasser, das den gesamten Bahnsteig wie ein öliger Film bedeckte, machte mit den Händen eine energische Bewegung, und die Schiebetüren des Waggons wurden förmlich zur Seite gerissen.
»Fast hätte ich vergessen, dass auch Sie ein Trickster sind.«
Mein Lächeln erstarb, als ich das Innere des Zuges erblickte.
»Oh, nein.« Emily hielt sich die Hand vor Mund und Nase.
Der Gestank war Ekel erregend.
»Bleiben Sie dicht hinter mir«, befahl ich meiner Begleiterin.
Ich spähte vorsichtig in den Waggon hinein.
»Was ist hier nur geschehen?« Fassungslos betrachtete Emily das Ausmaß der Verwüstung. Überall war Blut. Dunkles, nahezu schwarzes Blut, das Boden und Plastiksitze gleichermaßen bedeckte und die rostig riechende Farbe sein musste, mit der verzweifelte Hände ihre Abdrücke auf dem Fensterglas hinterlassen hatten. An einem Plakat, das hohe Bußgelder für Schwarzfahrer androhte, klebten Haare mit den Resten von etwas, das Kopfhaut gewesen sein musste. Ein Laptop mit dem Abzeichen der Leyton-Gilde lag zerschmettert neben Stiefeln, die einmal einem Officer der Metropolitan gehört haben mussten.
»Vergessen Sie’s!«
Emily winkte energisch ab.
»Ich habe noch gar nichts gesagt.«
»Vergessen Sie’s!«
Sie kannte mich mittlerweile ganz gut.
»Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Nur ein einziger Tunnel führte nach Waterstones Junction hinunter. Dies war der Weg, den wir gekommen waren. Und es war der Weg, den die Kreaturen nahmen.
»Emily Laing!«
Sie zuckte zusammen.
Ich ergriff ihre Hand.
»Kommen Sie«, sagte ich, sah ihr in die Augen und zog sie in den Waggon.
Dann hörten wir ein Heulen.
Viel zu laut, um weit genug entfernt zu sein.
»Woher kam das?«
Die Antwort, ahnte ich, würde ihr nicht gefallen. »Aus dem Zug.«
Emily musste an die Geschichte von Peachey Carnehan und Daniel Dravot denken. An das, was den beiden in den Bergen von Kafiristan zugestoßen war.
Das Heulen erklang wieder.
Und dieses Mal wurde es beantwortet.
Von rauen Kehlen aus der Nachtschwärze des Tunnels, den wir hinter uns gelassen hatten. Tierische Laute, getrieben von Blutdurst. Schreie von Jägern, die sich ihrer Beute gewiss waren.
»Es könnte hilfreich sein«, schlug Emily vor, »wenn Sie die Türen schließen.«
Mit einer Handbewegung kam ich der Bitte des Mädchens nach.
»Und was jetzt?«
Emily schaute vorsichtig umher. »Fragen Sie nicht mich!«
»Jemand muss den Zug gesteuert haben«, wagte ich zu behaupten. »Immerhin hat ihn jemand angehalten.«
»Und die Kreatur, die soeben
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