Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
schweigend von mir führen und hing ihren Gedanken nach, bis wir erschöpft und mittlerweile nicht mehr ganz so durchnässt schließlich doch noch unseren Bestimmungsort erreichten.
Augenblicklich glaubte Emily sich in die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht versetzt, in die sich Aurora und sie selbst im Waisenhaus immer hineingeträumt hatten.
»Willkommen in Brick Lane Market«, sagte ich.
Und wie früher schon einmal folgte Emily Laing mir an einen Ort, den sie niemals zuvor betreten hatte und dessen magische Gerüche exotische Abenteuer verhießen.
Kapitel 5
Brick Lane Market
»Was ist die uralte Metropole?«, hatte Emily damals, als sie zum ersten Mal hinabgestiegen war, wissen wollen.
Meine Antwort war kurz ausgefallen.
»Die Stadt unter der Stadt.«
Denn so nennen wir sie seit alters.
Dort, wo die U-Bahn endet, erstreckt sich ein Katakombensystem aus schmalen Wegen und versteckten Straßen. Große Gewölbe und Röhren und Korridore gehen ineinander über. Verborgene Flüsse bringen jene, die sie befahren können, an Orte, die exotischer und beängstigender nicht sein können. Es gibt vergessene Bahnsteige mit unsichtbaren Menschen, die, auf niemanden wartend, in der einsamen Schwärze von Gospel Oak hausen. Flussmenschen, die Abfälle aus der Themse fischen und in The Deep verkaufen. Große Wölfe, die ihren zwielichtigen Geschäften nachgehen. Müllmärkte. Handelsrouten. Nicht zu vergessen den Ravenscourt und Adelphi Arches.
»Es ist die Stadt unter der Stadt.«
Tiere leben und vermehren sich hier unten, allzeit vor den Blicken der Menschen verborgen. Mächtige Wesen, die schon uralt waren, als die Mythologien der Menschen noch nichts als ein kümmerlicher Funke im Bewusstsein träumender Dichter waren. Engel mit feurigen Stimmen, die Irving Berlin huldigen, haben ihren lichtdurchfluteten Himmel am Oxford Circus gefunden. Tunnelstreicher durchwandern die Abwasserkanäle in alle Himmelsrichtungen, und die fahrenden Händler der städtischen Gilden bieten ihre Waren auf den Märkten in den römischen Ruinen unterhalb der St.-Pauls-Kathedrale feil.
Die Hölle, das wissen wir, ist niemals weit hier unten.
Doch, das sei angemerkt, zu unser aller Glück fest verschlossen.
Dennoch lebt man gefährlich in der uralten Metropole.
Meuchelmörder und windige Schwindler und halbgare Halunken treiben sich in den tiefen Schatten herum. Flinke Diebstähle sind keine Seltenheit hier unten. Von den lauernden Taschendieben in Brick Lane Market erzählt man sich sogar, sie seien so schnell, dass man am Ende des Marktes sein eigenes Hab und Gut wiedererstehen könne.
»Brick Lane Market«, hatte ich Emily bereits in Marylebone erklärt, »ist das Herz Indiens, das nach London ausgewandert ist.«
Und dort schlägt es.
Sehr lange schon.
Tief in den Eingeweiden der Erde.
Hoch oben in der Bethnal Green Road ahnen wohl die wenigsten Menschen, dass sich unterhalb der bekannten U-Bahn-Schächte von der Shoreditch Station bis hinunter nach Whitechapel eine orientalische Welt erstreckt, die es in ihrer bunten Vielschichtigkeit selbst mit den Metropolen von Bombay und Delhi aufzunehmen vermag.
»Als die Kolonien des mächtigen Empire langsam zerfielen«, hatte ich zu Emily gesagt, »da waren bereits viele derjenigen, die die englische Lebensart zu schätzen gelernt hatten, nach London gekommen. Brick Lane Market ist einer der Orte, an denen sie sich eine Welt geschaffen haben, die ein Abbild ihrer Heimat ist.«
Emily fragte sich nun, was mit den alten Göttern geschehen war.
Neugierig und fasziniert betrachtete sie das rege Treiben um sich herum.
Einmal dort angekommen, befanden wir uns inmitten einer Höhle von Ausmaßen, die eines jeden Tunnelgräbers Berechnungen hätten absurd erscheinen lassen, in einem gewaltigen Hohlraum voll sich geschäftig tummelnder Menschen, der von einer kunstvoll verzierten Kuppel überspannt wurde, die Meister ihres Fachs aus dem feuchten Felsgestein herausgeschlagen und mit farbenfrohen Malereien der Warlis aus Maharashtra und der Gonds aus Madhya Pradesh versehen hatten. Häuser aus hellem Sandstein und solche aus braunen Ziegeln riefen einem in warmen Farben die legendären Abenteuer Haroun al-Raschids und Sindbad des Seefahrers ins Gedächtnis.
»Die alten Ziegeleien«, erklärte ich Emily, »werden noch immer genutzt.«
Heißer, nach gebranntem Lehm riechender Dampf und dichte Rauchschwaden quollen aus vielen der Tunnelöffnungen und ließen unsere Kleidung schneller
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