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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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trocknen. Von der Kuppel tropfte stetig Wasser herab, das sich wie ein sanfter Nieselregen über alles zu legen schien und an manchen Stellen den Eindruck heraufbeschwor, die Gesichter hoch oben vergössen Tränen.
    »All die Flüsse und Kanäle, die hinauf nach Barkingside Beneath führen, verlieren ständig Wasser durch das Felsgestein hoch über uns.«
    Die vielen lodernden Fackeln und die aus großen Reisighaufen entfachten Feuer, die sich überall zwischen den Häusern und Marktständen befanden, ließen den feinen Nieselregen verdampfen, noch bevor er den Boden aus hellem Sand berühren konnte. Monsunartige Winde, geboren in den Höhlen und Tunneln, die Brick Lane umgaben, wehten über die Dächer der Häuser hinweg.
    »Es ist heiß hier unten«, stellte Emily fest.
    Verschleierte Frauen in farbenfrohen Tüchern wanderten emsig zwischen den Ständen umher, Körbe mit Waren und Krüge mit Flüssigkeiten auf den Köpfen balancierend. Männer hockten in Gruppen und Pfeife rauchend in den Ecken und disputierten lautstark über Politik und Religion und natürlich auch, das nahm Emily stillschweigend an, über das Verschwinden der Menschen und die Morde, die jedermann hier unten mit Kalidurga in Zusammenhang brachte.
    Allerlei Köstlichkeiten aus fernen Ländern wurden feilgeboten. Reis stapelte sich in großen Säcken aus derbem Stoff, und gleich daneben standen in höchstem Maße unappetitlich aussehende Blechkanister voller Speiseöl. Zigaretten und Pfeifen gab es an jeder Ecke zu kaufen, ebenso Zeitschriften und Gebetsmünzen und Black Seed Oil.
    Gesprochen wurde ein Gemisch aus Englisch, Urdu, Bengali und Gudjarat.
    Abgeschabte Möbel standen überall herum. Auf den bunten Decken am Boden wurden Haushaltswaren aller Art angepriesen. Außerdem bengalische Musik auf raubkopierten Kassetten, alte Hornbrillengestelle mit teilweise zerbrochenen Gläsern, dazu Werkzeuge mit gar seltsam anmutenden Formen. Es gab Holzschnitzereien und süßliche Gewürzmischungen, auf schmalen Bambusmatten aufgehäuft. Brick Lane Market ist ein Ort der Tauschgeschäfte für nahezu alles, was sich tauschen lässt.
    »Bleiben Sie dicht bei mir!«, forderte ich Emily auf.
    »Ist es gefährlich?«
    »Dies ist Brick Lane Market.«
    Emily ahnte, dass es nicht mehr dazu zu sagen gab.
    Als sie mir durch das Gewühl der Menschen folgte, musste Emily unweigerlich an die Vinshati denken. Inmitten all der intensiven Gerüche und verwirrenden Geräusche, des Stimmengewirrs und der beschwingten Melodien fremdartiger Instrumente schien die Geschichte Kiplings mit einem Mal so greifbar zu sein, dass Emily fast schon die lauernden Blicke Kalidurgas in den Schatten spüren konnte und sie das Gefühl beschlich, die Kreaturen könnten uns von Waterstone Junction aus gefolgt sein.
    »Warum«, hatte Emily mich unterwegs gefragt, »dürfen Wiedergänger sich nicht mehr in der uralten Metropole aufhalten?«
    »Eine lange Geschichte ist das.«
    »Die sie mir erzählen werden?«
    Hartnäckigkeit war eine von Emilys herausragenden Eigenschaften, und der Weg bis nach Brick Lane Market war noch lang gewesen.
    Also hatte ich es ihr gesagt.
    »Wiedergänger sind seit langer Zeit schon eine geächtete Rasse.« Vielleicht, so hatte ich insgeheim gedacht, war dies eines der in Vergessenheit geratenen dunklen Kapitel in der Geschichte Londons. »Sowohl die Regentin als auch der Senat haben einst beschlossen, dass es keiner dieser Kreaturen mehr erlaubt sein darf, ihren Fuß auf Londons Boden zu setzen.«
    »Aber warum?«
    Gab es nicht weitaus gefährlichere Geschöpfe hier unten?
    »Einige Wiedergänger waren führende Königstreue gewesen in den unruhigen Zeiten der Restauration. Um ihre politische Position zu stärken, hatten sie den König zu ihresgleichen gemacht.« Dies jedenfalls war die Geschichte, die mir Mylady Hampstead, meine Mutter, erzählt hatte. »Den König, der angeblich nach seiner Wandlung zum Wiedergänger nicht mehr zurechnungsfähig gewesen war, hatte man hinrichten müssen.«
    Grausige Blutbäder sollten sich in den Grafschaften rings um London und weiter nördlich in Nottinghamshire zugetragen haben. Geistesschwache Wiedergänger hatten sich angeblich mit den Werwölfen Yorkshires gepaart und eine Nachkommenschaft gezeugt, die das Land in den Winternächten heimgesucht hatte und schlimmer gewesen war als die schwarze Pestilenz von 1665. »Charles der Erste wurde öffentlich enthauptet, und die Blut leckenden Lakaien und Höflinge, die er um sich

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