Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
heimtückische Fallen verwandeln, in denen Ratten, Spinnen und Menschen gleichermaßen zu ersaufen drohen. Vorsichtig muss man die Pfade beschreiten, will man den Anblick des Tageslichts ein weiteres Mal genießen können.
»Glauben Sie«, fragte Emily mich auf unserem Weg hinüber zum West India Quay, »dass hinter all den Vorfällen wirklich Carathis steckt?« Irgendwie kam ihr der Name bekannt vor, doch konnte sie ihn nach wie vor nirgends einordnen. Dennoch war sich das Mädchen sicher, ihn bereits zuvor vernommen zu haben.
»Dass die Wiedergänger einen Plan verfolgen?«
Meinte sie das?
»Ja.«
Wir bewegten uns durch einen der High Level Sewer.
Dieser nahezu runde Abwassertunnel aus Backstein, durch den wir südwärts gingen, war nur noch auf den sich zu beiden Seiten des schmutzigen Wassers befindlichen Gehsteigen passierbar. Manchmal zeigte sich eine Ratte, die aber sofort wieder in der Dunkelheit verschwand, sobald sie der helle Strahl der Leuchtstäbe traf.
»Es ist jedenfalls merkwürdig«, dachte ich laut, »dass ausgerechnet wir beide mit der Aufklärung dieser Fälle beauftragt worden sind.« Nicht zu vergessen Maurice Micklewhite und Aurora Fitzrovia, die im Augenblick in den weiten Hallen der Nationalbibliothek nach Hinweisen suchten. Einzig Eliza Holland war nicht an den Ermittlungen beteiligt worden.
Emily musste aufpassen, um nicht auf dem feuchten Stein auszurutschen.
»Master McDiarmid hat zweifelsohne etwas Bestimmtes damit bezweckt.«
Das tat er immer.
Während meiner Ausbildung hatte ich einige kurze Einblicke in das erhaschen können, was McDiarmids Berufung zu sein schien. Alchemie war offiziell sein Steckenpferd gewesen. Doch liebte es der stille Mann mit dem Gesicht eines hungrigen Raubvogels, die Fäden im Hintergrund zu ziehen. Kontakte zu den Ältesten der Black Friars waren ihm damals zuzutrauen gewesen. Geheime Treffen mit der Regentin wurden ihm von den anderen Schülern angedichtet. Selbst zu den Häusern Manderley und Mushroom soll er Beziehungen unterhalten haben, über deren Ausmaß und Art es nicht wenige Spekulationen gegeben hatte.
»Es hat mit mir zu tun, stimmt’s?« Woran Emily in diesem Moment dachte, war unschwer zu erraten.
»McDiarmid hat mich darum gebeten, gemeinsam mit Ihnen nach Barkingside Beneath zu gehen und mittels einer ihrer Toderfahrungen zu ergründen, wie genau Amrish Seth gestorben ist.«
Was, das musste ich mir eingestehen, seltsam war.
Hatten die Black Friars nicht ihre eigenen Ermittler in den Grafschaften Londons? Gab es nicht die für solche Ermittlungen ausgebildeten Inspektoren von Senat und Scotland Yard?
»Ich bin eine Trickster«, sagte Emily.
»Das ist wahr. Dennoch glaube ich nicht, dass McDiarmid allein Ihre spezielle Begabung im Auge hatte, als er die Taube nach Marylebone entsandt hat.« Einen Augenblick lang überlegte ich, ob Emily die ganze Wahrheit erfahren sollte, entschied mich dann jedoch dagegen.
»Woher hat McDiarmid überhaupt gewusst, dass Amrish Seth der Tote in Barkingside gewesen ist?«
»Gute Frage.«
»Auf die Sie eine Antwort wissen?«
»Nein.«
So gingen wir unseres Weges. Leise, vorsichtig.
Hin und wieder spähte Emily mit ihren Gedanken in die vor uns liegenden Tunnel, da wir einen Angriff aus dem Hinterhalt befürchteten.
Denn der Anblick des Schreins war uns noch gut im Gedächtnis.
Keine halbe Stunde war es her, seitdem wir vor dem stinkenden Schrein mit den blutigen Opfergaben gestanden hatten. In den engen Kellergewölben von Stepney Green hatte jemand die Skulptur Kalis in einem umgestürzten Abfallkorb platziert. Girlanden aus verwelkten Blüten und abgetrennten Rattenpfoten hatten den Hals der Göttin geschmückt. Brennende Kerzen hatten ihr Wachs über die nackten Füße der Skulptur ergossen. Was auch immer die stinkende blutige Masse um Kali herum einmal gewesen sein mochte, hatte keiner von uns beiden ergründen wollen.
»Das ist barbarisch«, hatte Emily entsetzt hinter vorgehaltener Hand gemurmelt und nicht einmal die menschlichen Überreste gemeint.
»Es ist, was es ist.«
Mehr hatte es dazu nicht zu sagen gegeben.
Die Bewohner von Brick Lane erbaten die Gnade der Göttin Kalidurga, wie man es in ihrem Heimatland seit Jahrhunderten tat. Dass sie dabei einer dunklen Gottheit huldigten, tat nichts zur Sache. Dass sie dazu Ratten meuchelten, war, betrachtete man die Rolle der Nager in den Whitechapel-Aufständen und den Unruhen, die vor vier Jahren die Stadt der Schornsteine
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