Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
zuvor, Emmy. Ich habe gespürt, dass die geheimnisvolle Frau meine Mutter ist.«
»Es war nur ein Traum«, sagte Emily.
»Träume«, murmelte Aurora, »sind selten nur Träume.«
Emily erwiderte nichts darauf.
Aurora Fitzrovia, das wusste sie, war seit Jahren verzweifelt auf der Suche nach ihren Wurzeln. Nach einer Geschichte, die ihr erklären würde, wer das dunkelhäutige Baby in die Mülltüte eingewickelt und an jenem verregneten Herbsttag, der Ewigkeiten zurückliegen mochte, vor dem Briefkasten im Stadtteil Fitzrovia ausgesetzt hatte.
»Diese wirren Träume«, sagte Aurora leise, »kehren immer wieder. Seit Wochen schon.« Sie schwieg einen Moment lang und sah zum Fenster hinaus. Dann sprach sie aus, was ihr Angst bereitete: »Seit die Menschen in London verschwinden.« Die Bedeutung dieser Worte ließ das Morgengrauen in einem neuen Licht erscheinen. »Was soll ich nur davon halten, Emmy?«
»Es sind Träume«, sagte Emily nur.
»Ich kann die Ratten verstehen, Emmy!«
Eine Feststellung, über die sich die Mädchen schon oft unterhalten hatten.
Die alles auf den Punkt brachte, was sich Aurora an ihrer eigenen Existenz nicht erklären konnte. Die alle Fragen, die sich das Mädchen bezüglich seiner Herkunft jemals gestellt hatte, in sich vereinte.
Denn Aurora Fitzrovia versteht die Rattensprache.
Viele Bewohner der uralten Metropole haben keine Probleme damit, die Nager zu verstehen. Doch war Aurora Fitzrovia nicht ein einfaches Menschenmädchen? Hatte sie nicht während der ersten Monate, die sie in der uralten Metropole verbracht hatte, keinen der Nager verstehen können? Hatte Mylady Hampsteads Piepsen nicht erst mit der Zeit einen Sinn für sie ergeben?
»Wer bin ich?«, fragte Aurora ihre Freundin erneut.
Die Antwort, die Emily ihr gab, war die nahe liegendste.
»Du bist Aurora Fitzrovia. Du bist meine Freundin. Und du bist gerade beim Frühstück.«
Aurora lächelte traurig und wurde sogleich wieder ernst. »Vielleicht«, mutmaßte sie, »bin ich ebenso wie du ein Wechselbalg.«
Die Mädchen schwiegen.
Woran Aurora dachte, war für Emily unschwer zu erraten. Irgendwo in der Vergangenheit des Mädchens gab es die Antwort auf diese Frage. Eine Erklärung für alles, was sich Aurora bisher nicht zu erklären vermochte. Die ihr endlich sagen würde, wer sie wirklich war.
Plötzlich öffnete sich die Tür.
Manche Dinge, dachte Emily in diesem Augenblick, kündigen sich an und manche nicht.
»Emily!«
Peggotty kam mit roten Wangen und wehender Kittelschürze in die Küche gestürmt. Ganz außer Atem. Aufgeregt, wie die Mädchen sie selten gesehen hatten.
»Was ist passiert?«
»Ihre Mutter, Miss Emily«, brachte Peggotty, die eine Reihe von Treppen hinaufgelaufen war, unter Keuchen hervor, »ist verschwunden.« Sie schnaufte laut. »Die Gitterstäbe vor ihrem Fenster hat man verbogen vorgefunden.«
Das, dachte Emily, ist es also, was der neue Tag für mich bereithält. Doch als Aurora ihre Hand ergriff, da wusste sie auch, dass sie nichts von alledem allein durchstehen müsste. Dass Aurora Fitzrovia sie natürlich begleiten würde.
Hinaus in die Stadt der Schornsteine.
In den Regen.
Dorthin, wo irrsinnstrunkene Schreie durch gekachelte Korridore und Treppenhäuser hallen.
Wo bis vor wenigen Stunden Mia Manderley in einer kleinen Zelle ihr armseliges Leben gefristet hatte.
Hinab zum Mund des Wahnsinns.
Kapitel 10
Moorgate Asylum
Die Mädchen wollten den Ort, den die Bewohner von Moorgate abschätzig und zugleich respektvoll Mouth of Madness nennen, mittels der Bakerloo Line erreichen, die sie in Farrington zu verlassen gedachten, um von dort aus in die uralte Metropole hinabzusteigen.
»Master Wittgenstein ist bereits früh am Morgen aus dem Haus gegangen, weil er Termine am Whitehall College wahrnehmen musste«, hatte Peggotty den beiden mitgeteilt und sich gar nicht erfreut darüber gezeigt, dass sich die Mädchen auf eigene Faust ins Irrenhaus von Moorgate zu begeben gedachten. »Ihr beiden solltet warten, bis Master Wittgenstein wieder zurückgekehrt ist oder wenigstens Master Micklewhite um Beistand bitten.«
»Wir müssen aber sofort aufbrechen«, hatte Emily betont, und Aurora hatte umgehend versucht, ihren Mentor telefonisch zu erreichen, doch vergeblich. »Keine Ahnung, wo er steckt.«
Also hatte Emily sich ihren bodenlangen Mantel, den sie so sehr liebte, und eine Mütze übergezogen, und Aurora war in ihre braune Lederjacke geschlüpft, die Maurice Micklewhite für
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