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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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er sei im Grunde seines Herzens doch ein netter Kerl, da überzeugte er sie bereits wieder vom Gegenteil. »Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe.« Sie hatte kein Interesse an einem Streit. Und wenn sie sich auf dieses Gespräch einließ, dann würden sie beide irgendwann streiten, so viel war sicher.
    Sie drehte sich zur Seite und tastete mit der Hand nach der Stelle an ihrem Bauch, wo die Kugel eingedrungen war. Nicht einmal eine Narbe konnte sie fühlen, und als sie den Pullover ein Stück nach oben zog, da sah sie, dass die Haut völlig unversehrt war. Wie, in aller Welt, hatte er das nur gemacht?
    Tristan Marlowe war aufgestanden und ging in der Kirche auf und ab.
    Sie sah ihm hinterher.
    Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stand er vor dem Altar und hielt den Kopf gesenkt, sodass die langen Haare nach vorn fielen und sein Gesicht verbargen. Warum, fragte sie sich, wurde sie aus diesem Kerl nicht schlau?
    Gedankenverloren betrachtete sie die Fresken an den Wänden zu beiden Seiten des Altars. Szenen der Marienlegende zeigten sie, Frau und Kind im Schneegestöber. Tief verborgen in dem Schneesturm erkannte man undeutlich die Umrisse römischer Legionäre.
    »Es heißt, dass der Schnee der Verkünder des Unheils ist.« Der junge Alchemist verharrte an der Stelle vor dem Altar, und Emily konnte nicht erkennen, ob er nur dastand oder gar betete. Bisher hatte sie sich niemals gefragt, ob ihr Begleiter gläubig war.
    »Tristan?«
    Er drehte sich nicht zu ihr um. »Ja?«
    »Wollen Sie darüber reden?«
    Jetzt sah er sie an.
    Dann fragte er: »Worüber?«
    War da Unsicherheit in seiner Stimme?
    »Über Ihre Gabe.«
    Er blickte erneut zu dem Altar.
    Dann kam er zu ihr, setzte sich im Schneidersitz neben die aufgehäuften Kissen, faltete die Hände im Schoß.
    »Ich kann Menschen heilen, wenn sie krank sind.« Schon vorhin hatte er nicht glücklich gewirkt, als er es ihr gesagt hatte. »Ein Segen, nicht wahr?« Sein Lachen klang bitter. »Ich erfuhr davon, als ich zwölf Jahre alt war.« Er öffnete den Mund, doch das, was er hatte sagen wollen, blieb unausgesprochen.
    »Manchmal hilft es, darüber zu reden.«
    »Ja, das sagte McDiarmid damals auch.«
    »Der mysteriöse Magister McDiarmid.«
    »Spotten Sie seiner nicht, Emily. Er ist ein guter Mensch. Er hat sich meiner angenommen, wie er sich auch Ihres Mentors angenommen hat.«
    »Ich wollte nicht …«
    »Ist schon gut. Sie können ihn nicht leiden, das hat mir Wittgenstein mitgeteilt. McDiarmid überdies auch. Aber er trägt es Ihnen nicht nach. So ist er. Zudem ist es Ihr gutes Recht, Menschen nicht leiden zu können.« Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht zu deuten vermochte. »Er hat sich meiner damals angenommen, als man mich in Newgate einsperren wollte.«
    »In Newgate?« Gab es diesen Ort denn wirklich? Emily hatte Geschichten darüber gelesen.
    »Das Gefängnis von Newgate befindet sich heute in der uralten Metropole.«
    »Das habe ich nicht gewusst.«
    »Es gibt einiges, was Sie nicht wissen.«
    Schon wieder eine neue Unfreundlichkeit, doch Emily zog es vor, sie ihm vorerst nachzusehen. »Was ist passiert?«
    »Meine Eltern waren arme Leute«, begann er zu erzählen. »Es gab Schulden, die mein Vater leichtfertig gemacht hatte und die er dann nicht zurückzahlen konnte, und Arbeit, die hart und schmutzig war. Wir lebten in den Baracken von Southwark, in der Nähe der Clink Street, und als ich klein war, da schämte ich mich bereits für das, was ich war.« Er senkte den Blick, und das Licht, das auf sein Gesicht fiel, tanzte in traurigen Schatten über die Augen, die fernab von diesem Ort nach den alten Bildern suchten. »Manchmal schickte mich mein Vater zur Themse, damit ich nach Sachen Ausschau hielt. Dingen, die andere weggeworfen hatten. Sie zu sammeln war nicht das Schlechteste.« Seine Finger spielten nervös an der Naht eines der Kissen herum. »Wir waren kaum besser als die Restefresser, denen alle Welt mit Abscheu entgegentritt.« Es fiel ihm schwer, über all das zu sprechen, doch sprudelten die Worte, als hätten sie all die Jahre nur darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden. »Als meine Mutter erkrankte, da dachte ich, dass alles vorbei sei. Sie hustete Blut und siechte immer mehr dahin. Mein Vater hatte sich nie wirklich um mich gekümmert. Um meine Mutter auch nicht. Er war ein einfacher Mann, der schrie, ehe er zuhörte, und zuschlug, ehe er redete. So war die Welt, in der ich lebte. Sie war einfach und hart. Doch

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