Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
in dieser Version der Schornsteinstadt. Nur Sand oder Geröll oder altes, klobiges Kopfsteinpflaster. Die Dinge waren verzerrt, als hätte sie ein schlechter Zeichner zu Papier gebracht.
    »Es gibt keine Menschen.« Warum war ihr das nicht früher aufgefallen? Wo es doch so offensichtlich war. Das war es, was Aurora Angst machte. Außer ihnen beiden befand sich niemand auf dem großen Platz. Sah man von den knurrenden Taubenwesen ab. Nicht, dass sie Höllenmenschen begrüßt hätte, aber das jegliche Fehlen von Menschen ließ die Umgebung noch fremder und furchteinflößender wirken.
    Die Autos, die nicht fuhren, sondern nur in den Straßen standen, waren alt und mit einer feinen roten Sandschicht bedeckt. Fensterscheiben waren zersplittert, Reifen ganz platt. Gerade so, als hätte ein furchtbarer Sturm in dieser Gegend gewütet.
    »Warum«, fragte Aurora, »sind wir hier? Warum in diesem verzerrten Abbild von London?«
    Sie rief sich Elizas Worte ins Gedächtnis zurück: »Ich sehe eine Stadt, in der ich einst gelebt habe. Es ist alles noch da, als wäre kein Augenblick seit damals vergangen.« In welchen Städten hatte Eliza einst gelebt? Nein, es war eine andere Frage, die sie sich stellen musste: Wo hatte Lilith einst gelebt?
    »Der Limbus, so sagt man, zeigt sich jedem, der ihn findet, auf eine andere Art und Weise.« Das war es, was Sariel ihnen offenbart hatte. Das war es, was man sich am Oxford Circus erzählte. »Ein Engel, der aus freiem Willen sein Leben hingibt, vermag die Pforten für alle zugleich zu öffnen.« Sariel hatte es getan. Er hatte die Mala’ak ha-Mawet besiegt, weil er gar nicht erst versucht hatte, sich an sein eigenes Leben zu klammern. Sariel hatte sie alle hergebracht, doch nun lag es an ihnen, den Weg zu beschreiten.
    »Der Limbus«, dachte sie laut nach, »ist für uns genau diese Version von London.«
    »Er ist das, wovor wir uns am meisten fürchten?«
    War es das?
    Konnte dies die Antwort sein?
    »Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
    Der rote Himmel, lastende Stille. Nur das Flattern und leise Knurren der seltsamen Taubenwesen, die Aurora immer unheimlicher wurden.
    Ergab das alles einen Sinn?
    »Wenn die Dürre und die Nebel in London aufeinander treffen«, mutmaßte Neil, und während er sprach, wurde ihm erst die Bedeutung seiner Worte bewusst, »dann würde vielleicht genau dies hier dabei herauskommen. Ich meine, vielleicht sieht dieses London so für uns aus, weil wir uns davor fürchten, dass die Stadt der Schornsteine zu diesem London werden kann.«
    »Möglich.«
    Etwas lenkte die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich.
    »Da, schau!«
    Die Taubenwesen hüpften auf ihren spindeldürren Beinen herum und knurrten jetzt lauter als noch vorhin. Fast so, als störe sie etwas. Viele schwarzrunde Augenpaare starrten in die Richtung der Neuankömmlinge. Blutrote gespaltene Zungen leckten über die gekrümmten Schnäbel.
    »Wir sollten von hier verschwinden.«
    Plötzlich kam Bewegung in die Massen von Taubenwesen.
    Mit einem Schlag erhoben sie sich, wo auch immer sie gesessen hatten, und eine Wolke von wilden Taubenwesenleibern bedeckte den tiefroten Himmel, der Tag oder Nacht bedeuten mochte.
    Neil, der die ganze Zeit schon nach einem Fluchtweg Ausschau gehalten hatte, zog Aurora hinter sich her. »Komm, schnell!« Sie durften jetzt keine Zeit verlieren.
    Gleich auf der anderen Straßenseite befand sich der Eingang zur U-Bahn-Station Charing Cross. Neil hatte keine Ahnung, ob es eine gute Idee war, dort hinunterzulaufen. Er wusste nicht, was sie dort unten erwartete. Wie hätte er es auch wissen können? Vielleicht gab es dort unten gar keine U-Bahn in diesem London. Oder es warteten gar neue unsagbare Schrecken auf sie. Wie auch immer, in Anbetracht der Taubenwesen, die nur Schlechtes im Schilde zu führen schienen, war dies die beste Alternative, um nicht zu sagen die einzige, die ihnen beiden blieb.
    »Sie kommen!« Aurora gab sich Mühe, leise zu sprechen, wenngleich auch sie nicht wirklich die Hoffnung hegte, dass sie ungeschoren davonkommen würden.
    »Ich weiß.«
    Als hätten die Taubenwesen nur darauf gewartet, dass sich die beiden in Bewegung setzen, war der blutrote Himmel auf einmal erfüllt von einem Knurren aus hunderten von rauen Kehlen. Eine Wolke aus fleischigen Federn und spitzen Schnäbeln senkte sich auf den Trafalgar Square hernieder und jagte dem Mädchen und dem Jungen hinterher, die mittlerweile unverhohlen hektisch auf die breite Treppe zustürmten.
    Neil Trent

Weitere Kostenlose Bücher