Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Vielzahl von möglichen Welten zeigten. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger Tisch, auf dem Schriften und Gerätschaften sich den Platz streitig machten. An den Wänden Regalreihen voller staubiger, alter Bücher, in denen das Wissen von Abendland und Orient zwischen vergilbte Deckel gepresst war. Eine Insel aus Kissen mit einer Wasserpfeife befand sich unter den Fenstern im hinteren Teil des Turms.
»Was sollen wir jetzt tun?«
Er sah mich an. »Wir?«
»Ja, wir!«
»Wir werden vorsichtig sein, Mortimer. Wenn das, was du mir gesagt hast, der Wahrheit entspricht, dann versucht man, dich aus dem Verkehr zu ziehen. Die Polizei wird nach dir Ausschau halten, nach Miss Laing und Marlowe ebenso.«
»Ich wollte den Rabbi aufsuchen.«
»Schemajah Hillel?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Vielleicht weiß er mehr.«
»Über den Tempel?«
Ich nickte.
»Du musst vorsichtig sein, sobald du dich wieder in den Straßen bewegst. Die Stadt ist voller Spitzel, und ich denke, dass unser Gegner Vorbereitungen getroffen hat für den Fall, dass wir den Aufenthaltsort des Salomon-Tempels erfahren.« Er sah die Sache also doch als unsere Aufgabe an. »Aber was rede ich da, du kennst die Stadt gut genug, Mortimer.«
Ich musste an Gustav Charousek denken, der mir die Stadt damals gezeigt und der mich in den Kreis seiner Freunde aufgenommen hatte. Gustav hatte mir vertraut, und dieses Vertrauen hatte ihm am Ende den Tod gebracht.
»Du bist noch immer so schwermütig wie damals«, stellte McDiarmid fest.
Überrascht schaute ich auf. »Ich bin, wie ich bin.«
Er musste lächeln. »Du warst ein so verschlossener Junge. Niemand hat in dich hineinschauen können.«
Ich erinnerte mich daran, als sei alles erst gestern gewesen.
Da waren die langen Lehrstunden in eben diesem Raum. Pflanzenkunde, Chemie, Physik und die Schulung meiner speziellen Fähigkeiten. Immer besser war es mir gelungen, die Gegenstände um mich herum nur kraft meiner Gedanken zu sehen. Sie in Gedanken anzufassen. Sie in Gedanken zu bewegen.
Ich lernte die menschliche Anatomie kennen und erfuhr mit Schrecken, welchem Schicksal ich in London entgangen war. McDiarmid zeigte mir auf, was man mit meinem Talent zu tun in der Lage war. Wie einfach es doch war, ein Herz am Schlagen zu hindern. Wie leicht es mir fallen würde, den inneren Organen Schaden zuzufügen. Eine Waffe wäre ich geworden, ein tödliches Werkzeug in den Diensten der uralten Metropole.
McDiarmid hatte damals bereits geahnt, dass man die Trickster-Kinder zu Bösem verwenden würde. Nur wie genau dies geschah, darüber hatte sich selbst er nur in Vermutungen ergehen können – und was mit den Trickster-Kindern passierte, die sich den Anweisungen der Black Friars widersetzten, das wusste ich erst jetzt. Wir alle hatten es gesehen, unten in der Abtei nahe Thameslink.
McDiarmid jedenfalls, das hatte ich damals gespürt, war mehr um mein Wohl bemüht gewesen als irgendjemand sonst, den ich gekannt hatte. Und nach und nach begann ich mich ihm zu öffnen. Erzählte ihm von dem, was mir das Herz zerrissen hatte. Von Rima, dem Kind und Salem House. Vieles davon, erfuhr ich, hatte McDiarmid bereits gewusst und dennoch geschwiegen, weil er die Entscheidung, darüber zu reden, allein mir hatte überlassen wollen. Irgendwie war er für mich wie der Vater gewesen, den ich niemals gehabt hatte. Er hatte mir Respekt entgegengebracht und mich wie einen Menschen behandelt.
Vertrauen, das wusste ich, ist eine kostbare Pflanze, die schnell stirbt, wenn sie nicht stetig gepflegt wird.
Jetzt stand ich wieder hier, an dem Ort, den ich als Kind so oft besucht hatte. Nächtelang hatte ich über den alten Büchern gebrütet. Und manchmal hatte sich mir das filigrane Netzwerk, das sich Leben nennt, sogar in kurzen blitzlichtartigen Eindrücken offenbart. Doch hinter all der Theorie, hinter all dem Wissen, war es immer Rima gewesen, die mich das Leben hatte fühlen lassen. Das Leben, das nie wieder da sein würde, wie es in jenen Tagen in London da gewesen war. Das Leben, das niemals wieder meine Hand halten würde, wie Rima es getan hatte, und das mir niemals wieder zuzwinkern würde.
Eines Tages, das war seit jeher meine Hoffnung gewesen, würde das, was uns entzweit hat, vielleicht zu besiegen sein. Sagen die Romantiker nicht, dass die Liebe immer einen Weg findet?
Ich beobachtete die Wolken, die das mächtige Schloss in Schatten tauchten. Schon damals war das Schloss ein Ort der Geheimnisse gewesen. Niemand wusste
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