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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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würde in Kürze den Leichnam ihrer Mutter in der großen Gruft nahe Manderley Manor beisetzen.
    »Ich werde es tun«, sagte Emily bestimmt, und die verzweifelte Traurigkeit in ihrer Stimme war wie eine Träne, die in der Winternacht gefror.
    Bevor ich etwas erwidern konnte, berührte sie die Stirn ihrer Mutter.
    Legte die Hand darauf.
    Schloss die Augen.
    Spürte, wie die toten Bilder zum Leben erwachten.
    Zu atmen begannen, ganz eisig, ganz kalt.
    Dies war der Moment, vor dem Emily sich immer gefürchtet hatte. Das, was zu tun sie niemals mutig genug gewesen war, als ihre Mutter noch gelebt hatte. Es war das, was sie konnte. Das, weswegen sie die Whitehall Schule verlassen hatte, am Ende. Das, was man allzeit von ihr verlangte, wenn man sie an Orte wie diesen hier rief.
    »Sie sind eine Trickster.«
    Nur langsam hatte sie während der vergangenen Jahre die Bedeutung dieser Worte erkannt und ihre Begabung zu nutzen gelernt. Zu nutzen, ja. Zu schätzen, nimmer. Es war eine Bürde, derer sie sich nicht entledigen konnte, weil die Fähigkeit in ihr ruhte und erwachte, wenn es einen Anlass dazu gab. Meistens konnte sie die Fähigkeit kontrollieren, doch manchmal, nur manchmal, da kontrollierte die Fähigkeit das kleine unsichere Mädchen, das sie irgendwo immer noch war.
    Dann kamen die Bilder.
    Bestürmten sie.
    Wirbelten.
    Haltlos.
    Hier.
    Und jetzt.
    Mit einem Mal.
    War Emily in der Zelle.
    Hoch oben im Nordturm.
    Sah.
    Fühlte.
    Konnte riechen.
    Was Mia Manderley empfunden und gesehen hatte.
    Graue Gummimatten, die den Boden bedeckten. Schmutzige Wasserflecken an der Decke. Weiße Kacheln an den Wänden. Enge Hand- und Fußfesseln schmerzten an den Gelenken, bei jeder Bewegung, und war sie auch noch so zart. Sie summte eine Melodie, und es war diese Melodie, die neue Bilder heraufbeschwor. Bilder, die einen jungen Mann zeigten, der sie unter einem Baum in die Arme nahm. Bilder, die zerflossen, als es kalt wurde.
    Nebel.
    Kroch heran, so leise.
    Unter der Tür hindurch.
    Grau, wispernd.
    Lebendig.
    Das war es, was sie spürte.
    War es ein Nebel oder waren es viele?
    Sie wusste es nicht.
    Aber es war Leben in dem Nebel, der immerfort wuchs und den sie schmeckte und roch und dann atmete. Das wabernde Grau floss ihr durch die Nase und den Mund, und sie spürte, wie die Eiseskälte ihr durch den Kopf schlich und die Zunge lähmte und die Augen von innen bedeckte. Mit letzter Kraft öffnete sie den Mund, und ein gellender Schrei entwich dem gemarterten Körper, so laut und wild und verzweifelt wie der eines sterbenden Tieres, dessen Leib zerrissen wird von den Dingen, die sich seiner Erklärung entziehen. Der Nebel flüsterte ihr Worte zu, die leise ihren kümmerlichen Verstand zerfetzten.
    Er tat ihr weh.
    Das war es, was er tat.
    Und sie spürte, dass er es gern tat. Dass er es genoss, und sie fragte sich, wie es sein konnte, dass der Nebel in ihrem Kopf war und hinter den Augen ein Loch in ihr Bewusstsein fraß, krallenscharf und hungrig wie Krähen es sind, die sich auf den Feldern an Kadavern kleiner Tiere laben.
    Doch konnte sie immer noch sehen.
    Durch den Nebel hindurch.
    Ein wenig nur.
    Sie sah.
    Wie die Tür aufgerissen wurde und ein Junge dort stand, der die rote Uniform eines Boten trug. Ja, sogar die silbernen Knöpfe an seiner Jacke bemerkte sie. Der Junge hatte die Zellentür geöffnet und kniete sich neben sie, und sie sah in seine Augen und sah seinen Mund, der aufgeregt Worte formte. Dann erschien der Mann, den sie kannte. Der Mann mit der weißen Jacke, der immer zu ihr kam, wenn sie schrie. Der die anderen rief. Die anderen, die mit den Spritzen kamen und ihr wehtaten. Die anderen, die sie fürchtete. Besonders denjenigen mit den weißen Augen und der Stimme, die so unheilvoll war.
    Emily taumelte.
    Ihr Atem wurde schneller.
    Sie sah, was ihre Mutter gesehen hatte.
    Nebel schwammen in des Pflegers Augen, und wie ein wildes Tier stürzte er sich auf den armen Botenjungen, zerrte ihn von Mia Manderley fort. Aus weiter Ferne erklang das Geräusch von Glas, das zersplitterte.
    Schreie.
    Dann Stille.
    Allein der Nebel war da.
    Und neuer Nebel.
    Kam hinzu.
    Kroch ihr durch den Mund, der jetzt keine Schreie mehr ausstieß. Schmecken konnte sie den Nebel, der, das ahnte sie, den beiden Männern Böses angetan hatte. Sie sah eine Landschaft, die sie erschaudern ließ. Blackheath, über dessen weite Ebene tief unten in der Erde einst Nebel gekrochen waren. Seltsam geformte Blumen und schwarzes Moos, das die

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