Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
darauf, dass es in Emilys Leben den jungen Adam Stewart gab, der sie wirklich aufrichtig liebte. Insgeheim wusste sie natürlich, dass so zu empfinden falsch war. Ungerecht, ja. Doch was sollte sie tun?
Natürlich war es richtig, dass Emily und Adam Zeit miteinander verbrachten. Trotzdem vermisste Aurora die Stunden, die Emily früher mit ihr verbracht hatte, und die Gespräche, von denen Emily nun viele mit ihrem Freund führte. Adam war ein netter Kerl, und dennoch … er war da, und weil er da war, hatte sich ihr Leben verändert.
Aurora dachte oft an den anderen Jungen, der mit ihrem Herzen im Schlepptau zur See gefahren und nicht wieder zurückgekehrt war. Neil Trent, der damals bei Edward Dickens in dem alten staubigen Raritätenladen gearbeitet hatte. Neil mit seinen blauen Augen und dem störrischen, wilden blonden Haar und dem wunderbarsten Lächeln, das ein Junge einem Mädchen nur schenken konnte.
»Ich mag Bücher, die von der See erzählen«, hatte er ihr damals gestanden, als sie begannen, einander kennen zu lernen. »Von den alten Kolonien und fernen Ländern und unbekannten Ozeanen. Ich liebe das Meer und den salzigen Geruch und den stürmischen Wind, der einem ins Gesicht bläst.«
Zur Themse waren sie oft hinunterspaziert und hatten am Ufer gesessen und den Wellen gelauscht. Die Sonne hatte ihre Gesichter gekitzelt, und wenn Neil sie umarmt hatte, dann war die Welt eine andere gewesen. Dann hatte es nur den dunklen Fluss und die helle Sonne und das gleißende Geräusch der gegen die Steine schwappenden Wellen gegeben. Einige Male nur war Neil mit ihr zum Greenwich Pier spaziert, zur Cutty Sark, und dort hatten sie dann schweigsam gestanden und den alten Segler betrachtet, und Neil hatte ihr von der Seefahrt erzählt und seiner Familie und den Träumen, die seine Augen hatten glänzen lassen, sodass Aurora die Hölle vergessen und den Himmel erkannt hatte.
»Wann wirst du wieder in London sein?«, hatte Aurora ihn gefragt.
»In einem Jahr wird die Pequod nach England zurückkehren.«
So war es geplant gewesen.
»Das ist eine lange Zeit.«
»Ja, ich weiß.« Schuldbewusst hatte er sie angesehen. »Aber …«
Aurora hatte mit dem Finger seine Lippen berührt, ganz sanft und bestimmt.
»Es ist doch dein Traum, zur See zu fahren, oder?«
Er hatte genickt.
»Ich werde am Kai stehen und dir zuwinken, wenn die Pequod ausläuft.« Sie hatte sich an die alten Seefahrerfilme mit Gregory Peck erinnert gefühlt, die sie im Nachmittagsprogramm der BBC im Wohnzimmer der Quilps gesehen hatte, und diese Erinnerung hatte etwas tröstend Romantisches gehabt. »Und ich werde am Kai stehen, wenn das Schiff zurückkommt.«
»Du wirst mich doch nicht vergessen, oder?« Unsicher hatte Neil gewirkt, und der Wind hatte sein Haar zerzaust. In jenem Moment war ihr bewusst geworden, dass die Angst des Jungen, sie könne ihn vergessen, ebenso stark war wie ihre eigene Furcht davor, ihr könne Gleiches widerfahren. Es waren diese unsicheren, nur leise und zögerlich ausgesprochenen Worte, die mehr sagten als alle noch so romantischen Liebeserklärungen dieser Welt.
Sie hatte gelacht. Fröhlich und traurig zugleich. »Nein, ich werde dich nicht vergessen.«
Sein Gesicht hatte gestrahlt.
»Niemals werde ich dich vergessen.«
Und die Erinnerung an dieses Strahlen hatte ihr Herz erwärmt, als er fort war.
Bis zu jenem Tag, als Emily ihr die Unglücksnachricht überbrachte.
»Die Pequod wird vermisst.« Einfach so waren die wenigen Worte an einem warmen Morgen im Sommer in ihr Leben gefallen, wo sie mächtige und wütende Wellen geschlagen hatten, die sie beinah mit sich gerissen hätten.
»Das glaube ich nicht«, hatte sie im ersten Moment gestammelt. »Nein, das kann nicht sein.«
»Wittgenstein hat es vor einer Stunde erfahren.«
Schwindel hatte sie befallen.
Lähmend.
Wirbelnd.
»Ist das Schiff gesunken?«
Wie aus weiter Ferne hatte sie Emilys Stimme vernommen: »Verschollen.«
Das war alles gewesen.
Was hätte sie sonst noch sagen sollen?
Neil Trent war aus ihrem Leben verschwunden. Einfach so. Zurückgeblieben war nur ein leerer Platz, wo vorher ein Herz geschlagen hatte.
Inzwischen lebte sie seit nahezu vier Jahren in einer Welt ohne Neil Trent.
Tage.
So leer.
Nächte.
So angefüllt mit Träumen.
Noch immer besaß sie das Buch mit dem grünen Schutzumschlag, das er ihr damals geschenkt hatte. »Im Herzen der See«. Sie verwahrte es wie ein kostbares Kleinod und las so oft darin, dass sie die
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