Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
fragte sich, wie es sein konnte, dass jemand solche Freude daran fand, andere zu quälen.
War dies eine Eigenart der düsteren Engel?
Dann musste sie an das Waisenhaus denken, an Rotherhithe. An Reverend Dombey, der in der Hölle gestorben war.
Nein, sagte sie sich, es gibt viele Menschen, die so sind wie die Mala’ak ha-Mawet.
»Schau her, Kind!«
Mühsam richtete sich Aurora auf.
Alle Knochen taten ihr weh.
»Der Junge wird sterben und wissen, dass du vor Trauer vergehst.« Er lachte schallend. Funkelte Neil an. »Nicht wahr, Junge?« Ganz nah kam er seinem Gesicht. »Ich werde dein Mädchen am Leben lassen. Sie wird durch den Limbus irren und um dich trauern. Wahnsinnig werden wird sie vor Schmerz. Das ist die Zukunft deiner Gefährtin.« Die gespaltene Zunge leckte über die schwarzen Lippen. »Gefällt dir das, junger Held?«
Mit einem letzten Aufbäumen widersetzte sich Neil dem Engel, doch ein kräftiger Schlag ins Gesicht erstickte all seine Gegenwehr im Bruchteil eines Augenblicks.
»Aurora«, formten seine blutigen Lippen ihren Namen.
Und das Mädchen, das im roten Staub kniete, begann zu weinen.
Der Mala’ak ha-Mawet lächelte breit.
Genoss jeden Augenblick.
»Ich liebe dich«, formte Aurora lautlos mit zitternden Lippen.
Niemals zuvor hatte sie jemanden mehr geliebt.
Neil Trent war ihr Leben.
Und wenn er sterben würde, dann würde sie kein Leben mehr haben.
Nie wieder.
Verzweifelt eilte sie ihm erneut zu Hilfe.
Warf sich mit allerletzter Kraft gegen den dunklen Engel.
Mit nur einer Hand packte der Mala’ak ha-Mawet sie am Hals und wirbelte sie herum. Sie keuchte, schnappte nach Luft. Schlug mit dem Gesicht voran auf dem Boden auf. Schluckte roten Staub, der sie husten ließ. Dann öffnete sie die Augen.
Sah die Zähne des Mala’ak ha-Mawet. Die Klauen.
Neil sah ihr in die Augen.
Und sie blickte in seine.
Ja, er würde sterben.
Hier unten im Limbus.
Der Mala’ak ha-Mawet führte die Krallen an den Hals des Jungen.
Und Aurora Fitzrovia, die ihr Glück gefunden zu haben glaubte, verfolgte durch einen Schleier aus heißen, verzweifelten Tränen, wie ihr dieses Glück auf immer genommen wurde.
Die Menora bewegte sich in dem Moment, als die Mala’ak ha-Mawet auf uns zutraten.
Ein Lichtblitz erhellte den Tempel.
Die Eindrücke kamen so schnell, dass Emily sie kaum verarbeiten konnte.
Da lebte etwas, in den Fängen der Menora.
Es war undeutlich, nein, unscharf.
Mensch.
Mädchen.
Frau.
»Eliza!«, entfuhr es Emily.
Die Mala’ak ha-Mawet zückten Schwerter, und ihre Haifischmünder öffneten sich bedrohlich.
Ja, es war Eliza Holland, die sich dort hinten in den Fängen der Menora befand. Durchsichtig war sie, wie eine Zeichnung, bei der man noch die Farbe auftragen muss. Ihr hübsches Gesicht war nur ein Schimmer, aber es war nicht zu übersehen, dass sie litt.
Die Menora indes war scharf umrissen.
Sie atmete.
Pulsierte.
War hungrig, wie es eine Pflanze nur sein konnte.
Doch hatten wir kaum die Zeit, uns über die Menora Gedanken zu machen.
Der erste der Mala’ak ha-Mawet sprang auf Emily zu, während der zweite die Menora anstarrte.
Gabriel breitete die Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte.
Der Mala’ak ha-Mawet, der es auf Emily abgesehen hatte, holte mit dem Schwert aus und ließ es auf das Mädchen herniederfahren. Emily stand wie angewurzelt da. Tristan Marlowe aber zog die Klinge aus seinem Gehstock und führte einen kräftigen Schlag gegen des Engels Bein aus. Zugleich duckte sich Emily, und die Schwertklinge sauste über ihren Kopf hinweg.
»Gabriel ist verschwunden«, bemerkte Tristan Marlowe trocken.
Der andere Mala’ak ha-Mawet heulte laut auf, als sich Eliza, die von der Menora gefangen halten wurde, deutlicher abzuzeichnen begann. Tentakel hatten sich um ihre Arme gewickelt und zerrten an dem Körper, der dem Zugriff der Pflanze hilflos ausgeliefert zu sein schien.
»Was geschieht hier?«, entfuhr es Emily.
Tristan Marlowe schrie: »Vorsicht!«
Emily duckte sich erneut.
Der Mala’ak ha-Mawet mit der Beinverletzung fauchte sie böse an. Doch dann schaute auch er zur Lade des Bundes hinüber.
Da erwachten die beiden Sphinxe zum Leben. Begleitet von einem knirschenden Ton, erhoben sie sich in die Lüfte. Flügel aus Bronze schlugen im Takt.
Sie sahen ganz anders aus als die Sphinxe der Bastet, die Emily aus Paris kannte.
Diese hier wirkten wie gezeichnet.
Wie unfertige Bilder.
Sie stürzten sich auf die beiden Engelskrieger und
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