Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
jetzt wohl erkannte, dass er vom Jäger zur Beute geworden war, schlug wild und hektisch mit den Flügeln. Dann aber wurden die Schläge der Flügel schnell leiser, und das bronzefarbene Schnurren der Sphinxe erfüllte die Wolke roten Staubs.
Vorn, auf der Lade, gewann der Körper einer Frau an Kontur. Noch immer war er durchsichtig, doch erkannte Aurora bereits jetzt, um wen es sich handelte. Sie spürte, wen die Tentakel der Menora umklammerten und wessen Leben sie in sich aufnahmen.
»Eliza!«, rief sie.
In welchem Limbus sie sich auch immer befunden haben mochte, nun war sie hier. War zu ihnen beiden zurückgekehrt. Würde sie nach Hause führen, hoffentlich.
Der Mala’ak ha-Mawet, der Auroras Ausruf vernahm, drehte den Kopf und blickte hinüber zur Lade.
Als er sah, dass Eliza immer mehr an Kontur gewann, da begann er panisch zu schreien.
Und während die fauchenden Sphinxe die Schreie des Mala’ak ha-Mawet zum Verstummen brachten, erkannten Aurora und Neil, was dort in der Mitte des Kuppelraumes von St. Paul’s vor sich ging.
Die Pflanze ließ den wie leblosen, mit Wundmalen übersäten Körper der Lichtlady fallen.
Und während sie fiel, veränderte sich mit einem Mal die ganze Kathedrale. Die Wände wurden durchsichtig. Sand wurde zu Stein, und Stein wurde zu Fensterglas. Alles änderte sich, und es sah aus, als radiere jemand die Kathedrale von St. Paul’s aus, während gleichzeitig ein neues Bauwerk gezeichnet und langsam wirklich wurde.
Einzig die Lade blieb das, was sie war.
Blieb dort, wo sie stand.
Und auch die Menora veränderte sich nicht.
Mit schlangenhaften Bewegungen liebkoste sie den hölzernen Kasten, der jetzt eine Goldfärbung bekam.
Säulen tauchten auf, wo vorher keine gewesen waren.
Menschen.
Freunde.
Längst vermisst.
Die Pforte barst hinter ihnen, und das laute Knurren der Taubenwesen füllte die Kathedrale von St. Paul’s. Spitze Schnäbel und wütende Flügel näherten sich zu abertausenden. Fensterscheiben zersplitterten lautstark, und immer neue hungrige Taubenwesen drangen in die Kirche ein.
Doch Aurora hörte dies alles gar nicht mehr.
Sie ergriff die Hand des Jungen.
Neil lebte.
Er stand neben ihr.
Und was immer auch um sie herum geschah, sie würden es gemeinsam durchstehen und, mit ein wenig Glück, auch überleben.
»Aurora! Neil!«
Die beiden standen im Tempel des Salomon, nicht weit von dem wie leblosen Körper Eliza Hollands entfernt. Waren dort aufgetaucht, als hätte sie jemand mit einem spitzen Bleistift in die Luft gezeichnet und dann mit Farben versehen.
Beide sahen verwirrt aus.
Mitgenommen.
Für einen kurzen Augenblick hatte Emily sogar geglaubt, im Hintergrund seltsame Taubenwesen und einen Ort, der sie an St. Paul’s erinnerte, erkannt zu haben.
»Emmy!« Aurora rannte auf ihre Freundin zu und umarmte sie.
»Wo habt ihr gesteckt? Was ist passiert?« Es waren nur einige der Fragen, die Emily auf der Zunge brannten.
Ganz außer Atem antwortete Neil: »Wir haben nicht die geringste Ahnung.« In nur wenigen Worten berichtete er uns vom Limbus, der wie London ausgesehen hatte, und dem, was ihnen gerade widerfahren war.
»Eliza?«, stammelte Aurora unsicher.
Die junge Frau lag regungslos auf dem Boden. Doch sie atmete.
»Sie wird sterben.« Tristan Marlowe erhob sich.
»Die Menora hat ihr die Lebensenergie geraubt«, sagte ich. Denn das war es, was auch Paridaezas Stock getan hatte. Blieb die Frage, wie Eliza Holland in die Gewalt der Menora hatte geraten können. Darauf wusste keiner von uns auf Anhieb eine Antwort.
»Wir waren getrennt worden«, überlegte Neil laut. »Vermutlich war Miss Holland in ihrem eigenen Limbus.«
Nachdenklich und tatenlos stand ich da. »Und in diesem Limbus hat sie die Menora gefunden.«
»Wir haben sie auch gefunden.« Aurora schilderte die Kathedrale von St. Paul’s in dem anderen London. Den Kuppelraum, in dem sowohl die Lade als auch die Menora gewesen waren.
Ich betrachtete die Lade und die Pflanze, die auf ihr ruhte. »Vielleicht ist die Lade eine Schnittstelle. Ein Ort, der in vielen Welten gleichzeitig existiert.« Oder in vielen Höllen? Wer konnte das schon sagen?
Emily und Aurora knieten sich jedenfalls neben Eliza. Sie atmete nur mehr schwach, und die Augenlider flatterten unruhig, so als wären schlechte Träume dahinter gefangen. Träume, die verzweifelt versuchten hervorzubrechen.
»Ich werde es tun«, sagte Emily nur.
Und bevor ich einen Einwand erheben konnte, da berührte sie
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