Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
sonst der Halt im Leben. »Lassen Sie uns von hier verschwinden«, schlug er vor und setzte sich in Richtung des Bahnsteigs in Bewegung.
»Wohin gehen wir?« Es war eine rein obligatorische Frage, denn eigentlich glaubte Aurora das Ziel zu kennen.
»Wir gehen dorthin, wo die Engel wohnen.« Der Fahrtwind eines nahenden Zuges wehte ihm das schwarzblaue lange Haar ins Gesicht. »Wir gehen zum Oxford Circus.«
Bangen Herzens fragte sich Aurora, wohin dies alles sie führen würde.
Als der alte Zug, der wohl schon seit Jahrzehnten auf der Victoria Line verkehrte, sie hinüber zum Oxford Circus brachte, da erinnerte sie sich dessen, was die sieben Schwestern ihnen mit auf den Weg gegeben hatten. Nichts im Leben, hatten sie gesagt, ist, wie es scheint. Daran musste Aurora denken. Daran und an den glücklichen Gedanken, den sie zurückgelassen und bereits vergessen hatte.
Kapitel 8
Londons Efeu
Der Stollen, den wir benutzten, um von Notting Hill Gate nach Queensway zu gelangen, war mit Stalaktiten übersät. Da wir uns hier unterirdisch zwischen den großen Grünanlagen der Stadt – Holland Park, Kensington Gardens und Regent’s Park – bewegten, jenen Teilen Londons also, die nicht von Asphalt und Häusern bedeckt waren, hatte an diesen Stellen das Wasser ungehindert zusammenlaufen und nach unten in den Boden sickern können, wo es den Lehmschichten gefolgt war und sich am Ende dann spitze und lange Steinzipfel an den Decken zu bilden vermocht hatten. Im unruhigen Geflacker der Lampen sahen die Stalaktiten aus wie fremde Relikte aus alter Zeit.
»Sie reden nicht gerade viel.« Um genau zu sein, hatte Emily gar nichts mehr gesagt, seitdem wir Portobello Market verlassen hatten.
»Was soll ich denn sagen?«
Ich zuckte die Achseln. »Fassen Sie das, was Ihnen im Kopf herumschwirrt, in Worte.«
»Das würde zu viele Worte verschleißen«, lautete ihre Antwort.
»Was manchmal aber durchaus hilfreich sein kann.«
»Ja, manchmal«, murrte Emily, »aber nicht immer.« Sie zog den Kopf ein, weil wieder einer der Stalaktiten vor ihr auftauchte. Zu behaupten, dass sie diese Gegend hier mochte, wäre deutlich übertrieben gewesen. Es war eng und kalt, und an manchen Stellen war der Stollen nicht mehr als ein schmaler Schlauch, kaum einen Meter breit, und man konnte sich an diesen Stellen nur mühsam durch die Engen hindurchzwängen. Beiderseits öffneten sich garstige Nischen voller Geröll, und dort musste man allzeit die Blicke vorsichtig nach unten und oben richten und sich behutsam fortbewegen.
Ganz still war es in diesem Teil der uralten Metropole. Die Welt der kalten Steine verschluckte selbst die Stimmen, die ohne jegliche Resonanz zu bleiben schienen.
Aus der Ferne drang das leise Rumpeln der Central Line an unsere Ohren.
»Was wird geschehen, wenn wir unser Wissen mit Mylady Manderley teilen?«
»Fragen Sie mich nicht.«
»Genau das«, murrte sie, »hatte ich von Ihnen hören wollen.«
Ich blieb stehen. »Es ist die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann.«
Bedrückt betrachtete Emily die wie frisch eingemeißelt aussehenden Zahlen und Buchstaben an den Wänden, die bei genauem Hinschauen exakte Hinweise auf das Jahr gaben, in dem die Arbeiten an dem Kalksteinstollen durchgeführt worden waren.
Sie dachte an den Portobello Market und die hölzerne Skulptur der beiden Schwestern.
»Weshalb sind Sie diesem Wayne gegenüber so vertrauensselig gewesen? Das ist doch sonst nicht Ihre Art.«
»Während der Whitechapel-Aufstände hat der Napoleon von Notting Hill die Truppen seiner Grafschaft an die Seite Manderley Manors gestellt. Bis zu diesem Tage war Notting Hill neutrales Gebiet gewesen, doch Adam Wayne hatte sich dafür entschieden, Partei zu ergreifen. So ist es bis heute geblieben. Notting Hill ist eine Grafschaft, die seit Jahren schon loyal zu Manderley Manor steht.« Zur Sicherheit betonte ich es noch einmal. »Er ist, was diese Sache angeht, eine wirklich vertrauenswürdige Person.«
»Was diese Sache angeht?«
Dem Mädchen entging, bemerkte ich stolz, kaum ein Zwischenton mehr. »Ja, was diese Sache angeht.«
»In anderen Dingen ist ihm also nicht unbedingt zu trauen?«
»Ist das nicht bei den meisten Menschen so?«
»Kann sein.«
Sie dachte an die Menschen, die ihren Weg gekreuzt hatten während der letzten Jahre. Ja, vermutlich war dies bei den meisten Menschen so. Jeder hatte doch nur sein eigenes Ziel vor Augen, und das, was jemand tat, diente in erster Linie den eigenen
Weitere Kostenlose Bücher