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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Gedanke, dass jeder Regentropfen und jede Pfütze gestorbene winzige Schneesterne sein könnten, stimmte Aurora traurig.
    »All dieser Schnee«, murmelte sie, als sie ins Tageslicht traten.
    Es war, als wolle der Schnee, der London unter sich begrub, das Böse verstecken, das immer noch lebte und atmete in der Stadt der Schornsteine.
    »Vielleicht hat das etwas zu bedeuten?«
    »Alles«, sagte Tristan Marlowe, »hat etwas zu bedeuten.«
    Die Menschen an der Oxford Street eilten hektisch von einem Kaufhaus zum nächsten, strömten in Selfridges und John Lewis und Marks & Spencers hinein und dann, meist unzufriedener, dafür aber beladen mit Einkaufstüten, wieder hinaus, um sich dem Strom Gleichgesinnter anzuschließen, der zwischen den vielen anderen Läden und Kaufhäusern, welche die Oxford Street säumten, floss. Sie warfen einander unfreundliche Blicke zu und machten sich rücksichtslos mit Einkaufstüten und der grimmigen Entschlossenheit eiliger Menschen Platz auf den überfüllten Gehwegen.
    Aurora sah sich um.
    Dort, wo die langen Straßen sich treffen, die Oxford Street und die Regent Street, dort stand ein Engel und musizierte, wie es der Engel Art ist.
    »Fühlt sich ein Engel in dieser Welt wohl?« Aurora wusste nicht einmal, ob Tristan Marlowe ihr eine Frage gestellt oder einfach nur laut gedacht hatte. Dann sah er sie an, und in seinen Augen fand sie die Antwort, so klar und deutlich, als sei sie immer schon dort gewesen.
    Der Engel, der neben einer der Ampeln an der Kreuzung Oxford Street und Regent Street stand, schien gänzlich unbeeindruckt von der vorweihnachtlichen Hektik der Stadt zu sein.
    Er trug einen abgetragenen Militärmantel, eine Hose mit Tarnmuster, das man jedoch infolge all der bunten Flicken kaum mehr als solches zu erkennen vermochte, und einen Schal, der, ebenfalls bunt und dazu geringelt, bis zu seinen Füßen hing, die in klobigen Stiefeln steckten. Blondes Haar lugte schulterlang unter dem Zylinder hervor, und das anmutige Gesicht mit den lichthellen Augen, deren Flammen man bis auf die andere Straßenseite zu spüren vermochte, wenn man genau hinsah, war übersät mit Tätowierungen, die wie Runen aus einem Zeitalter, an das sich niemand mehr erinnerte, anmuteten.
    Er hielt eine Klarinette in den Händen und spielte Lieder von Gershwin und Porter und Berlin, wie Engel es zu tun pflegen, wenn sie in den Straßen Londons wandeln. Außer einigen Kindern, die an den Händen ihrer Eltern durch die Stadt gezogen wurden, schenkte dem Engel kaum jemand Beachtung. Erst recht warf niemand auch nur eine einzige Münze in die Blechdose, die zu des Engels Füßen stand und auf der in schwungvollen und leuchtenden Buchstaben geschrieben stand:
    I’d rather Charleston with you.
    Als Tristan Marlowe und Aurora Fitzrovia den Engel erreichten, da spielte er ein Stück von Norman Blake, fröhlich und beschwingt wie die Sonne im Süden des Landes, in der es einst komponiert worden war. You are my sunshine, my only sunshine. Scheinbar beachtete es niemand, doch geschahen Dinge, die man nicht sehen konnte, zuhauf. Ein Ehepaar, das gerade miteinander gestritten hatte, wurde ganz still und nachdenklich. Am Ende hielten sich die beiden an den Händen wie damals, als sie noch Verliebte gewesen waren. Eine Frau, die unglücklich ihr Spiegelbild in den Schaufenstern gemieden hatte, sah sich selbst mit den Augen des jungen Mannes aus der Buchhaltung, der in sie verliebt war und den sie vorher nie zur Kenntnis genommen hatte, obwohl für ihre Kollegen ganz offensichtlich war, was da vor sich ging. Ein alter Mann, der allein war, hörte die Stimme seiner verstorbenen Frau und musste lächeln, weil er mit einem Mal wieder jung war und den ersten Kuss schmeckte, den sie ihm in einem Hauseingang in der Wilsham Street gegeben hatte, dort, wo sich ihr Elternhaus befunden hatte, damals, vor den Bombennächten. Ein Vater und Ehemann, der heimlich zu seiner Geliebten in Soho unterwegs war, hörte in der Melodie des Engels das Lachen seiner Frau und den Lärm, der schon frühmorgens aus dem Kinderzimmer drang, und kehrte um, als ihm endlich wieder bewusst wurde, dass er schon vor langer Zeit seinen Platz im Leben und das Glück, das jeder festhalten muss, wenn er es sieht, gefunden hatte.
    »Die Urieliten«, erinnerte sich Aurora der Worte ihres Vaters, »sind Lichtengel.«
    Tristan Marlowe lächelte ebenfalls, ganz seltsam verklärt.
    Aurora fragte sich, woran er gerade dachte, denn seltsam verklärt lächeln sah

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