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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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man ihn nur selten.
    Dann war der Song zu Ende, und die Menschen, in deren Leben es nun ein neues schönes Lied gab, das eigentlich ein altes und schon immer dort gewesen war, gingen weiter ihres Weges, ohne dass um das, was gerade geschehen war, viel Aufhebens gemacht worden wäre.
    Der Engel, der musikalisch und wachsam zugleich war, bemerkte die Neuankömmlinge.
    »Wir suchen Lord Uriel«, bekannte Tristan Marlowe und verneigte sich vor dem uralten Wesen mit dem Gesicht eines Jungen, der auch ein Mädchen hätte sein können.
    Der Engel verzog keine Miene. »Das tun viele.«
    Das Feuer in seinen Augen loderte.
    »Ihr verzaubert die Menschen.«
    Er schüttelte das Haupt. »Es ist alles schon da«, sagte er. »Die Lieder frischen nur die Farben auf, die von den Menschen selbst gewählt worden sind. Das ist alles.« Das Licht der Sonne verwandelte seinen Blick in ein Flammenmeer. Er verneigte sich ebenfalls. »Mein Name ist Sariel, und ich werde Euch zu meinem Herrn bringen, wenn es Euer Wunsch ist.« Die seltsamen Tätowierungen im Gesicht des Engels veränderten sich, wenn er sprach. »Seit Eure Freundin Lord Uriel das Auge geschenkt hat, ist vieles anders geworden.«
    »Ihr kennt Emily?«
    »Ich bin ein Engel«, antwortete Sariel. »Und Rahel war mein Bruder.«
    Er steckte die Klarinette in eine Tasche und hängte sie sich über die Schulter.
    »Mögt Ihr Norman Blake?«
    »Ja, schon.«
    Tristan Marlowe sagte: »Ich bevorzuge Cole Porter.«
    »Und Ihr?«
    »Bitte?«
    »Was hört eine junge Dame wie Ihr am liebsten, Miss Fitzrovia?«
    »U2.«
    Der Engel lächelte wissend. »Götter und ihr Zeitvertreib.«
    »Warum fragt Ihr uns das?« Tristan Marlowe konnte seinen Argwohn nur schwer ablegen.
    »Weil Musik wichtig ist, deswegen.« Sariel pfiff eine Melodie: They can’t take that away from me. Er grinste breit, und die Tätowierung auf seinem Gesicht schien lebendig zu sein. »Ihr versteht?«
    Beide nickten.
    Manchmal war es möglich, sich die Welt besser zu singen.
    »Wohin gehen wir?«, fragte Marlowe.
    Sariel zwinkerte dem Mädchen zu. »Dorthin, wo die Straßen keinen Namen haben.« Er pfiff die ersten Takte von Where the streets have no name. »Folgt mir nur.« Er hob die rostige Dose vom Boden auf und ließ die wenigen Münzen in der Winterkälte klimpern. »Wäre dies mein Lohn«, meinte er, »dann wäre ich eine arme Kreatur.« Unten in der U-Bahn, wohin er die beiden führte, drückte er die Blechdose dann dem ersten Obdachlosen in die Finger, den er in einem Nest aus stinkenden Kleidungsstücken und Plastiktüten neben einem Fahrkartenautomaten sitzen sah. Dazu pfiff er leise Keep on the sunny side. Der Obdachlose, der müde und betrunken war, blinzelte dem Engel entgegen, und ein Ausdruck, hell wie Licht, erschien auf dem schmutzigen, unrasierten Gesicht. »Normalerweise«, erklärte Sariel, »werfen die Menschen ihnen Geld zu, damit sie das Elend nicht ansehen müssen.« Er deutete auf die vielen anderen Obdachlosen, die sich wegen der Eiseskälte in die verschlungenen Wege der U-Bahn verdrückt und ihre dreckigen Matten in allen Ecken aufgeschlagen hatten. »Es beruhigt ihr Gewissen, sie kaufen sich frei, damit sie sich keine Gedanken mehr um das machen müssen, was anzusehen ihren Augen missfällt.« Er klang wütend, und die Melodie seiner Stimme wurde dunkel und roch nach Regen. »Wir sind Lichtengel, aber Licht in die Welt zu bringen war schon immer eine schwierige Aufgabe, der nicht jeder gewachsen ist.«
    Sariel durchschritt lange Korridore und führte Marlowe und Aurora immer tiefer in die Erde hinein. Die Bahnsteige der Central Line hinter sich lassend, ging es hinab zur Bakerloo, wo sich ein Portal befand, das ein vergilbtes Plakat für ein Manchester-Sound-Konzert im National Ballroom Kilburn war. Sariel murmelte einen Song, und das Portal öffnete sich. Die Welt wurde hell und warm, und der Himmel war da, wo er immer gewesen war.
    »Das«, verkündete Sariel stolz, »ist Oxford Circus, so wie wir Engel ihn kennen.«
    Es war eine Höhle, so riesig und gleißend hell, dass man glauben mochte, dass reinstes Licht den großen Hohlraum einst aus dem sandfarbenen urtümlichen Felsgestein geschält hatte. Runde, leuchtende Gebilde, die Kokons waren, hingen an der Decke und den Wänden. An den Unterseiten der Kokons befanden sich runde Öffnungen, durch die warmes Licht flutete.
    »Aleph vau resh yod aleph lamed«, rief Sariel mit einer Stimme, die mächtig anschwoll wie ein Orchester in Sadler’s

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