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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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hörte ich mich sagen.
    Dann wurden wir nacheinander in Mr. Creakles Büro gerufen und erhielten, jeder auf seine Weise, eine gestrenge Zurechtweisung, wie schon unzählige Male zuvor.
    »Der Lapislazuli ist ein Himmelsstein«, erklärte sie mir, »der Freundschaft und Liebe in uns weckt.« Sie zeigte mir einen blauen undurchsichtigen Stein mit goldenen Pyrit-Einschüssen, den sie an einem Band aus Leder um den Hals trug. »Meine Großmutter hat ihn mir einst geschenkt und gesagt, dass eines Tages jemand meinen Weg kreuzen wird, der mich verstehen lässt, was es mit dem Stein auf sich hat.« Sie sah mich an, sprach meinen richtigen Namen ganz langsam aus. »Hampstead.« So nannten mich die anderen. »Das klingt so streng.« Wieder lachte sie, einfach weil sie gern lachte. »Nein, du bist Lapislazuli.« Dann küssten wir uns, und mir wurde klar, dass man das Herz, nach dem man sich verzehrt, nicht suchen muss in der Welt und dass es keine Zufälle gibt und dass die Liebe einen zu finden vermag, wann immer es ihr gefällt.
    »Wo hast du nur gesteckt, all die Jahre?«
    Ihr helles Lachen war wie Musik. »Ach, frag nicht.«
    Lange Nachmittage verbrachten wir in dem alten Raritätenladen, und Edward Dickens, der Besitzer der altehrwürdigen Bücherstube, störte sich nicht an unserer Anwesenheit.
    Wir saßen auf einer plüschigen Couch und tranken Tee und redeten, und all die Worte wurden zu Geschichten, die einander zu erzählen wir nimmer müde wurden.
    Rima erfuhr von meiner Kindheit in dem Dorf in Schottland und dem Tag, an dem ich von dort geflohen war, weil meine Gabe die Menschen zu sehr geängstigt hatte. Von der kalten Stadt im hohen Norden erzählte ich ihr und davon, wie ich die Rättin getroffen hatte. Eindrücke wie kleine, mit einem Bleistift skizzierte Bilder lösten einander ab. Mylady Hampstead, die einen zerlumpten Jungen, der Essen gestohlen hatte, mit nach London nahm und ihm ein Zuhause gab. Die ihm Lesen und Schreiben beibrachte und sein Talent förderte und ihn nach Salem House schickte, wo er lange Jahre die Schulbank drückte und von den Dingen erfuhr, die angeblich die Welt in ihrem Innersten zusammenhalten.
    Ich selbst betrachtete die Bilder, die mir die junge Frau anvertraute: das Waisenhaus des Mr. Murdstone, drüben am Südufer der Themse in Rotherhithe, der Tag, an dem das Ehepaar Wittgenstein ihr ein Zuhause in Spitalfields gegeben hatte, die ersten Jahre in Salem House, in denen sie ihr eigenes feuriges Talent hatte entwickeln können und sich ausgegrenzt gefühlt hatte. Immer schon war sie jemand gewesen, der gern gelacht hatte, was es ihr in einer Welt, die ernst und grau war, nicht immer einfach gemacht hatte.
    »Wir sind anders«, sagte ich ihr, »und das wird immer so sein.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Was wirst du tun, wenn du Salem House verlässt?«
    »Mylady Hampstead hat mich in der Kunst der Alchemie unterrichtet. Das ist es wohl, womit ich mich beschäftigen werde.«
    »Sie ist eine nette Rättin.«
    »Ich weiß.«
    Und während wir redeten, kam der Winter über die Stadt der Schornsteine, und der Rauch, den die Kamine in den Himmel bliesen, wurde zu dicken Wolken, die das Firmament in einen Ort der schattenhaften Geheimnisse verwandelten. Die Zeit verging schnell, wie es nun einmal der Fall ist, wenn die Liebe einen beflügelt. London war unsere Stadt, und es gab so viele Orte, die wir immer und immer wieder aufsuchten, weil sie uns die schönen Momente, die wir mit ihnen verbanden, erneut atmen ließen.
    »Wir könnten gemeinsam in Marylebone leben«, schlug ich eines Tages vor, als wir durch Kensington Gardens gingen.
    Oft taten wir das.
    Durch die Gegend schlendern.
    Pläne schmieden.
    Für die Zukunft.
    Statt einer Antwort küsste sie mich.
    »Ist das ein Ja?«
    Sie lachte schallend. »Frag nicht!«
    Umarmte mich.
    Das Laub, das wieder einmal fiel, wirbelte von den Bäumen, und wir wussten, dass die Welt uns gehören würde. Wild verrückt und aus tiefstem Herzen glaubten wir daran, während ich die Blätter einen wirbelnden Tanz aufführen ließ, der Rima umarmte, als gebe es kein Morgen mehr.
    Doch die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie Liebende und kleine Kinder gleichermaßen. Rima Maria Wittgenstein erfuhr davon, als sie mich an jenem eisig klirrenden Wintertag im Raritätenladen aufsuchte. Edward Dickens war an diesem Nachmittag außer Haus, und an solchen Tagen übernahm ich die Geschäfte für ihn.
    Die Tür öffnete sich mit dem beschwingt rostigen Bimmeln

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